Leben mit dem Plutonium

Von Andrea Rehmsmeier · 06.02.2013
Atommüll-Wiederaufbereitung war in vielen europäischen Staaten lange eine anerkannte Methode, den abgebrannten Kernbrennstoff aus Atomreaktoren zu recyclen. Heute ist die Gegend um die Nuklearanlage Sellafield radioaktiv verseucht. Doch die Bewohner der Region nehmen die Gefahr eher gelassen: Denn die meisten haben mit Sellafield in einer strukturschwachen Region einen gut zahlenden Arbeitgeber gefunden.
Über der Irischen See türmen sich dunkle Wolken, Windböen peitschen die Wellen an den Strand. Die Gischt schäumt. Immer wieder müssen sich die Strandspaziergänger vor kurzen, aber heftigen Regenschauern in Sicherheit bringen.

Sie sind es gewohnt: In Seascale, dem 8000-Einwohner-Städtchen an der Küste Nordenglands, ist dieses Wetter nichts Ungewöhnliches. Ein Mann aber rennt. Mit großen Schritten hastet er zum nahegelegenen Parkplatz, und flüchtet sich in seinen Wagen.

"Studien zufolge kann in dieser Gegend Plutonium vom Meeresgrund aufgewirbelt und ans Ufer gespült werden. Bei so einem Wetter kann das Plutonium in der schäumenden Gischt hohe Konzentrationen erreichen. Am Strand trocknet es und der Wind trägt es weiter. An Tagen wie diesen besteht bei Strandspaziergängen also ein reales Risiko, Plutonium zu inhalieren. Inzwischen findet man es auch im Hausstaub entlang der gesamten Küste."

Plutonium – waffenfähig, hoch radioaktiv, extrem toxisch. Schon wenige Milligramm, die etwa mit der Atemluft in den Körper gelangen, gelten als tödliche Dosis für einen Menschen. Martin Forwood warnt vor der gesundheitsschädlichen Wirkung des Schwermetalls, seit er vor 30 Jahren als Aktivist der regionalen Umweltgruppe CoreCumbria beitrat.

In dieser Gegend, erzählt er, findet man Plutonium überall – im Sand am Strand, im Hausstaub und sogar in den Zähnen der Anwohner. Denn gerade zwei Kilometer von hier entfernt erstreckt sich das Gelände der Nuklearanlage Sellafield. Und diese hält einen unheimlichen Weltrekord: Nirgendwo sonst gibt es so viel reines Plutonium aus zivilen Beständen auf so engem Raum - 112 Tonnen. Sie sind ein Produkt einer Wiederaufbereitungspolitik, mit der sich Großbritannien, Japan und auch Deutschland über Jahrzehnte ihrer Atommüll-Sorgen entledigen wollten.

"Hinter dem Haus, das Sie dort drüben sehen, steht ein anderes Haus. Bis vor einigen Jahren wohnten dort zwei ältere Damen, die haben die wilden Tauben gefüttert und gepflegt. Des Nachts sind die Tauben nach Sellafield geflogen. Denn dort gibt es viele warme Ecken. Dort hatten sie ihre Nester. In der Nachbarschaft gab es einen Hotelinhaber, der sich über den Taubendreck ärgerte. Er hat sich die Genehmigung besorgt und einige der Vögel töten lassen. Damals hieß es das erste Mal: Seien Sie bloß vorsichtig mit den Kadavern, sie könnten radioaktiv sein."

Radioaktivität – in Seascale ist das ein heikles Thema. Leukämie ist in dieser Gegend eine häufige Krankheit, besonders bei Kindern und Jugendlichen. Der Atomkritiker Forwood zweifelt nicht, dass die Ursache der erhöhten Krebsrate in Sellafield liegt, denn die Atommüll-Wiederaufbereitung gilt als extrem umweltschädlich: Aus dem hoch radioaktiven abgebrannten Kernbrennstoff werden in heißer Salpetersäure die wieder verwertbaren Bestandteile Plutonium und Uran herausgelöst, um sie danach von Neuem zu Kernbrennstoff zu verarbeiten.

Doch Klagen von betroffenen Anwohnern gegen die Anlagenbetreiber hatten bislang keinen Erfolg. Der Zusammenhang zwischen der Strahlenbelastung und den erhöhten Krebsraten sei augenfällig, sagt Forwood, aber er konnte nie rechtskräftig nachgewiesen werden.

"Der Fall der Tauben zeigt, auf welche Weise Radioaktivität sich verbreitet. Es bleibt nicht innerhalb eines abgezäunten Betriebsgeländes, sondern gelangt auf den verschiedensten Wegen hinaus. Damals hat man die Tauben untersucht – und tatsächlich: Sie waren radioaktiv - innen, außen, in den Federn, überall. Der gesamte Schwarm, etwa 2000 Tiere, wurde getötet, ihre Kadaver mussten in einer Lagerstätte für schwach radioaktiven Atommüll entsorgt werden. Danach stellte sich heraus, dass auch das Grundstück der beiden alten Damen wegen des Taubendrecks radioaktiv war. Die Sellafield-Betreiber mussten ihnen den gesamten Garten abtragen."

Martin Forwood blickt durch die Windschutzscheibe seines Wagens auf die tosende See hinaus. Mit seinem weißen Bart und dem Wetter gegerbten Gesicht sieht er aus wie ein Seemann – aber hier, in Cumbria, fürchtet er nichts mehr als das tosende Meer.

Irgendwo da draußen, auf dem Meeresboden, sagt er, liege eine Rohrleitung. Seit den 50er-Jahren würden radioaktive Abwässer aus der Anlage in die Irische See geleitet – nach Forwoods Informationen insgesamt über eine halbe Tonne Plutonium.

"Dabei handelt es sich um Atommüll aus der Wiederaufbereitung. Ausländische Energieversorger sind mitverantwortlich für diese Verseuchung, weil sie ihrem abgebrannten Kernbrennstoff hierhin gebracht haben. Und jetzt ist hier die ganze Gegend voll mit gutem deutschem Plutonium. Und mit japanischem, europäischem und britischem natürlich."

Englandweit und international stoßen die industriekritischen Informationen, die CoreCumbria verbreitet, auf großes Interesse, berichtet Forwood. Nur in Cumbria selbst – in dieser strukturschwachen Region, wo Sellafield der größte Arbeitgeber ist – findet die regional ausgerichtete Anti-Atom-Organisation kaum Unterstützer. Vor einigen Monaten musste sie aus Finanzierungsgründen ihre Büroräume aufgeben. Seitdem arbeiten die Umweltschützer von zuhause aus.

Seascale liegt am Rande eines Naturschutzgebiets, inmitten einer urwüchsigen nordenglischen Landschaft mit sattgrünen Hügeln und kristallklaren Seen. Auf den felsigen Anhöhen drehen sich Dutzende Windkraftanlagen. Mit seinen farbenfrohen Wohnhäusern hat sich das Städtchen den Charme eines Fischerdorfes bewahrt. In der Mittagszeit locken Pubs mit Business-Lunch, preisgünstig und deftig. Hier tritt man Judith Kirkham. Die 53-Jährige hat ihr ganzes Leben in Seascale gewohnt. Ihr Vater arbeitete als Nuklearwissenschaftler in der Anlage.

"Er hat nie eine große Sache aus seinem Beruf gemacht. Er hat die Stelle angenommen, weil es interessante Arbeit war, und vermutlich auch gut bezahlt. Mein Vater hat für die Forschung gearbeitet. Was er da genau gemacht hat, kann ich nicht sagen: Ich war damals noch klein, und es hat mich nicht besonders interessiert. Für Kinder war Seascale damals ein toller Ort. Es gab Tanzstunden, es gab ein Kino, und im Clubhaus wurden Filme gezeigt. Ich habe Klavierstunden genommen und bin schwimmen gegangen. Es war immer etwas los."

Judith hat ein Buch dabei, das sie stolz auf den Tisch legt. Das Buch trägt den Titel "Sellafield Stories", und enthält die Lebenserinnerungen von Sellafield-Mitarbeitern aus einen halben Jahrhundert.

Das Cover zeigt eine Schwarzweiß-Fotografie, auf der man zwei kleine Mädchen und die Kühltürme eines Reaktors sieht: Sie selbst und ihre Schwester, auf einem Familienfoto aus den frühen 70er-Jahren. Damals hieß die Anlage noch Windscale, und produzierte in erster Linie Waffenplutonium. Ob auch ihr Vater an dem Atombombenstoff arbeitete, das weiß Judith bis heute nicht. Er starb vor einigen Jahren an Krebs. Aber Judith glaubt nicht, dass die tödliche Krankheit in Zusammenhang mit seiner Arbeit stand.

"Es ist möglich, aber in unserer Familien halten wir das nicht für sehr wahrscheinlich. Vater war ein starker Raucher – und Rauchen verursacht die spezifische Krebsart, die er hatte. Zwar gab es in dieser Gegend eine Häufung von Leukämiefällen, die wissenschaftlich stark untersucht wurde. Doch das einzige, das bei was dabei herauskam war, dass man einen Zusammenhang mit Sellafield nicht nachweisen konnte."


Judith mag sich das Leben in ihrer Heimatstadt nicht durch Nachrichten über gesundheitsgefährliches Plutonium verderben lassen. In jungen Jahren hat sie dort selbst in der Buchhaltung gearbeitet. Und wenn sie heute in der Zeitung liest, dass auf dem Gelände bald möglicherweise zwei weitere Atomkraftreaktoren gebaut werden, dann denkt sie in erster Linie an gut bezahlte neue Jobs in einer strukturschwachen Gegend.

"Wir haben kein Problem damit. Wie viele extra Jobs da kurzfristig entstehen, da weiß ich nicht. Aber allein in der Bauphase werden das eine Menge sein. Da kommt zusätzliche Arbeit in die Region. Mehr Sorgen als die neuen Reaktoren bereiten mir diese Windkraftanlagen. Sie zerstören die Landschaft. Beim Blick aus meinem Fenster sehe ich nur Menschen gemachte Dinge, und so etwas hasse ich."

Dabei ist schon vieles schief gegangen in dem nuklearen Gewerbegebiet, das sich gerade zwei Kilometer vor Judiths Haus erstreckt.

Am 10. Oktober 1957 verursachte ein Brand im Windscale-Reaktor eine der ersten großen Katastrophen in der Geschichte der Nukleartechnik, weitere Störfälle folgten. Auch nachdem Windscale aus Imagegründen in Sellafield umbenannt und in den Dienst der zivilen Kernkraftnutzung gestellt worden war, riss die Pannenserie nicht ab. In den Jahren 2004 und 2005 lief durch ein unbemerktes Leck im Rohrsystem über Monate 83 000 Liter plutoniumhaltige Flüssigkeit in ein Becken. Eine neu gebaute Fertigungsanlage für plutoniumhaltigen Kernbrennstoff erwies sich als technisch kaum funktionsfähig, und musste ihren Betrieb vorzeitig einstellen.

Heute haben sich die radioaktiven Hinterlassenschaften aus einem halben Jahrhundert europäischer Plutoniumwirtschaft auf dem Betriebsgelände angesammelt. Wie sehen die Sellafield-Mitarbeiter und Anwohner dieses Risiko? Das wollte Jenni Lister wissen, eine der Autorinnen des Buches "Sellafield Stories".

"Ich bin kein Atomkraft-Befürworter, ich bin neutral. Na gut, im Zweifel bin ich tatsächlich etwas mehr auf der Befürworterseite. Weil die Atomenergie Arbeitsplätze nach Cumbria bringt. Eine riesige Menge Arbeitsplätze für die Leute hier."

Über 100 ausführliche Interviews hat Jenni Lister mit Mitarbeitern und Anwohnern geführt, ihre Lebenserinnerungen decken über 60 Jahre Nuklearproduktion in Nordengland ab. Herausgekommen ist das Portrait einer Region aus der Sicht ihrer Einwohner. Und die Geschichte eines tiefgreifenden Strukturwandels in einem ehemaligen Bergbau-Gebiet um das regionale Zentrum Whitehaven, der nach dem Zweiten Weltkrieg begann.

"Früher gab es in der Gegend um Whitehaven viel chemische Industrie. Doch diese Zeiten sind vorbei. Textil, Chemie – all diese Branchen sind verschwunden. Heute gibt es nur noch Sellafield. Die Nuklearanlage war eröffnet worden, weil Großbritannien bei der nuklearen Abschreckung unabhängig von den USA sein wollte. Damals hat man den Reaktor in unfassbar kurzer Zeit gebaut. Es ging allein darum, militärisches Plutonium für die Atombombe herzustellen. Das ist meine Kindheit. Ich bin geboren im Jahr 1950 - und bin mit der Bombe aufgewachsen."

Cumbria, dieser entlegene Zipfel Nordenglands, hatte sich innerhalb weniger Jahre in eine nukleare Mono-Wirtschaft verwandelt. Für die Arbeiter, die die ebenfalls gesundheitsgefährliche Arbeit in den Kohleminen gewohnt waren, war eine Anstellung in Sellafield dennoch ein sozialer Aufstieg, sagt Jenni Lister: Sie bot sichere Gehälter, Absicherung und medizinische Betreuung.

Zwar habe der Tourismus unter der imageschädlichen Industrie gelitten, gibt Jenni Lister zu. Doch sie kann jeden verstehen, der sich in dieser strukturschwachen Region mehr um seinen Arbeitsplatz sorgt als um die politischen Diskussionen über das Für und Wider von Atomkraft. Schließlich beschäftigt Sellafield auch heute noch über 10 000 Menschen.

"Das Vertrauen in Sellafield ist stark in dieser Gegend, und das werden die Atomkraft-Gegner nie verstehen. Die Leute arbeiten dort, und sie wohnen mit ihren Familien in direkter Nachbarschaft. Das täten sie nicht, wenn sie einen qualvollen Tod fürchten würden. In London und an der Südküste freilich, da fehlt es an Vertrauen, und es fehlt an Wissen. Da wird Sellafield als eine Zeitbombe gesehen – eine Zeitbombe, die Gott sei Dank in weiter Entfernung tickt. Hier in dieser Gegend gilt Sellafield als Quelle von guten bezahlten Arbeitsplätzen. Das ist bei meiner Recherche zu den 'Sellafield Stories' eindeutig herausgekommen."

Der Regionalzug, der Cumbria mit Manchester und Edinburgh verbindet, führt durch ein dünn besiedeltes Bergidyll: Auf der einen Seite sind hinter der Fensterfront die Wellen des Irischen Meeres zu sehen, die an die Küste schlagen. Auf der anderen türmt sich eine felsige Landschaft zu bizarren Formationen.

Neben den Gleisen weiden Schafe. Ab und zu gibt eine Senke den Blick frei auf ein Städtchen mit spitzgiebligen Reihenhäusern in bunten Farben.

Am Regionalbahnhof Sellafield trifft der Umweltaktivist Martin Forewood einen alten Kollegen: Shaun Bournie, der als Spezialist für Sellafield bei Greenpeace arbeitet. Die Abzäunung der Nuklearanlage beginnt direkt hinter dem Bahnhofsgelände. Doch die beiden kommen nicht weit: Sofort werden sie von Uniformierten umkreist, die ihre Maschinengewehre demonstrativ vor der Brust tragen.

In einer gut 20-minütigen Prozedur überprüfen die Sicherheitskräfte die Personendaten: Martin Forwood hat Verständnis: Bei der riesigen Plutoniummenge, die in Sellafield lagert, können die Vorsichtsmaßnahmen gar nicht streng genug sein. Er versteckt sich vor dem einsetzenden Regen unter seinem Schirm, und weist mit dem Finger auf das eingezäunte Gelände.

"Dort drüben ist das Plutoniumlager, links, das graue Gebäude. Das sieht nach nichts Besonderem aus. Tatsächlich sind sie im Moment dabei, das Plutonium umzulagern in eine neue Lagerstätte. Das Gebäude mit dem hohen Schornstein, das ist THORP, so lautet der Name für die Wiederaufbereitungsanlage. Und das rote Gebäude direkt daneben, das ist die inzwischen stillgelegte Fabrik für MOX-Kernbrennstoff. Rechts davon liegt das neue Plutoniumlager. Hier vorn ist der Haupteingang. Davor stehen Polizisten, vermutlich sind sie mit Maschinengewehren oder Ähnlichem bewaffnet."

Von außen sieht das Plutoniumlager unspektakulär aus wie eine normale Gewerbehalle. Durch den Zaun hindurch sieht man Uniformierten zwischen Hindernissen robben und springen: Spezialkräfte beim Anti-Terror-Training. Besorgt blickt der Greenpeacer Shaun Bournie auf das Gelände.

"Das ist das größte Plutoniumlager auf dem Planeten. 112.000 Kilogramm lagern dort! Wenn man bedenkt, dass fünf Kilogramm genügen für eine Atombombe des Typs Nagasaki, dann ist das wirklich eine bedeutende Lagerstätte."

Bis heute, berichtet der Greenpeace-Angehörige Shaun Bournie, leitet die Nuklearanlage ihre radioaktiven Abwässer in die Irische See. In vielen Bereichen des Meeresboden sei Plutonium gefunden wurden, Krebse, Muscheln und Fische seien schwer verstrahlt. Die britische Regierung aber habe ihre Politik der Wiederaufbereitung nie wirklich in Frage gestellt.

"Die Wiederaufbereitungsanlage THORP war wirtschaftlich ein Desaster, die Kernbrennstofffabrik hat nie richtig funktioniert - aber das haben sie lange ignoriert. Als sie endlich zugegeben haben, dass die Brennstoff-Fabrik tatsächlich geschlossen werden muss, da lautete die Antwort der Sellafield-Gewerkschaften und der Lokalpolitiker: Wir brauchen eine neue! Das ist eine bizarre Situation: Anstatt zu versuchen, irgendwie mit den Hinterlassenschaften eines 60 Jahre währenden Nuklear-Desasters fertig zu werden, dreht sich jetzt alles um eine neue Brennstoff-Fabrik, womöglich sogar um neue Atomreaktoren vom Typ Schneller Brüter. So geht die ganze Geschichte weiter und weiter und weiter. Und unsere Gesellschaft zahlt den Preis: mit ihren Steuergeldern, mit ihrer Umwelt und ihrer Gesundheit."