Leben im Randbezirk

Von Daniel Stender · 15.02.2007
Die junge deutsche Regisseurin Maja Classen schildert in ihrer Dokumentation "Osdorf" das Leben einiger Jugendlicher im "Problembezirk" Osdorf bei Hamburg. Sie nähert sich auf ungewöhnliche Weise dem Thema Jugendgewalt und zeigt, dass sich hinter der harten Fassade ganz sympathische junge Menschen verbergen. Classens Film ist auf der Berlinale in der Sektion "Perspektiven Deutsches Kino" zu sehen.
Filmausschnitt: ""Das ist einfach eine kriminelle Gegend und das wird auch immer so bleiben, weil da auch nichts Großartiges passiert. Keine Gegend ist so wie hier. Weiß nicht wieso, die sind einfach ganz anders drauf – aggressiv."

Der Film beginnt mit einer langen Kamerafahrt durch das herbstliche Hamburg: Vom Hafen über schicke Villen in die Randbezirke, dorthin, wo die kleinen Reihenhäuser mit Garten aufhören, und die Hochhäuser von Osdorf anfangen. Osdorf, das ist eine Plattenbausiedlung aus den 60er Jahren. Damals ein Projekt der Stadtplanung am grünen Rand von Hamburg, heute das, was man einen sozialen Brennpunkt nennt.
Hier spielt Maja Classens Dokumentarfilm über die Jungs vom Osdorfer Born. Die Recherche für den Film war nicht immer einfach.

"Also am Anfang, als wir da rumgelaufen sind in Osdorf, da ist uns erst mal ein ganz schönes Misstrauen begegnet – oder so eine Mischung aus Faszination für Medien, sogar kleine Kinder, die gleich die Klischees, die sie aus den Medien kennen, reproduzieren, so Gewaltposen: ‚Sollen wir uns mal prügeln für euch?’ und ‚Wir sind hier die Heftigsten’."

Drogen, Gewaltvideos, und Migrationshintergrund – der 17-jährige Sihar und der 17-jährige Alican, die im Zentrum des Films stehen, verkörpern auf den ersten Blick alles, was seit den Ereignissen an der Rütli-Schule in Berlin durch die deutsche Integrationsdebatte spukt.

Aber anders als reißerische Reportagen zeigt Maja Classen in ihrer Dokumentation auch den Moment nach der Pose vor der Kamera – und kommt so erstaunlich nah an die Jungs heran. Die sich durchaus im Klaren darüber sind, dass Gewalt überhaupt nicht cool ist.
Im Gegenteil – eigentlich sind Alican und Sihar ganz charmante Jugendliche, denen man ihre Brutalität nicht recht glauben will.

Filmausschnitt: "Ich soll meine ganzen Arbeitsstunden hier einfach verbringen, das schaff ich locker. Das waren unterschiedliche Raubüberfälle, Diebstähle, ich hab Rollers geklaut, Autos geklaut, Fahrerflucht, Körperverletzung, alles zusammen und als Strafe hab ich bekommen 80 Arbeitsstunden, find ich eigentlich gut, hätten mir auch mehr geben können, bei dem was ich gemacht hab."

Es ist diese Intimität, die stutzig macht – schließlich spricht hier ein "jugendlicher Intensivtäter" ganz privat über sein Vorstrafenregister und wirkt dabei durchaus sympathisch.
Ein Bruch, der durchaus beabsichtigt ist, und der sich als Konzept im ganzen Film wiederholt – wobei die distanzierte Nähe, aus der Maja Classen ihre Protagonisten beobachtet, niemals anbiedernd wirkt.

"Osdorf" ist Maja Classens Diplomarbeit an der Filmhochschule in Potsdam - wohin sie über einige Umwege gelangte. Eigentlich kommt sie aus Hamburg, anders allerdings als die Jungs vom Osdorfer Born, aus einer großzügigen Altbauwohnung in Altona.
Nach Amerikanistikstudium und einem independent Filmpraktikum in San Francisco, reiste sie mit ihrem damaligen Freund durch Venezuela. Ohne Geld, mit wackeliger Kamera, und improvisierten Dialogen drehte sie dort einen siebenminütigen Streifen, mit dem sie sich an der Filmhochschule bewarb und gleich angenommen wurde.
Vielleicht ist es diese Weltläufigkeit, die den ganz eigenen Regiestil der zierlichen 32-jährigen geprägt hat: Ruhige und direkte Fragen zu stellen.

"Es gibt keine klare Bewertung, ich guck mir das sehr genau an, hab Verständnis an manchen Ecken, kritisiere es an anderen Ecken, aber es gibt keine endgültige moralische Bewertung des Ganzen, weil ich schon Verständnis für die habe. Auch für diese Jungs, wo ich mich schon echt erschrocken habe, wie gewalttätig die sind und es mir auch kaum vorstellen konnte, aber – es ist auch richtig schwer, wenn man dort aufwächst, dem fernzubleiben und ein gutes Leben zu führen, sozusagen."

Auch Maja Classens erster Film "Feiern" widmete sich unvoreingenommen einem kontroversen Thema. "Feiern" ist das Porträt einer exzessiven Subkultur aus elektronischer Musik, Drogen und Sex. Das Motto: "Don´t forget to go home – vergiss nicht, wieder nach Hause zu gehen." Die Protagonisten: Freunde, Bekannte und Unbekannte, junge und alte Kenner der Berliner Technoszene. Die immer auf der Suche nach ekstatischen Gruppenerlebnissen sind – einfach, weil sie Angst vor Einsamkeit haben. Ein Gefühl, das auch Maja Classen kennt.

"Ich kann mich mit diesem Bedürfnis, nicht alleine sein zu wollen, sehr stark identifizieren, das geht mir selber auch so, ich bin nicht gern alleine und ich hab auch große Angst vor Einsamkeit oder davor Menschen zu verlieren und kann ich das gut nachvollziehen, dass man dafür einen hohen Preis zahlt und auch etwas in Kauf nimmt wie Drogenkonsum oder die Folgen von Drogenkonsum."

Dennoch möchte Maja Classen nicht auf das Image der Szenefilmerin festgelegt werden – insofern ist es folgerichtig, das "Osdorf" auf der Berlinale läuft. Denn bei dieser Arbeit sagt sie, hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, mit ihren Filmen auf etwas Wichtiges aufmerksam zu machen.

Auch das nächste Projekt ist schon in Planung – eine Art semifiktiver Film, in den Hauptrollen: Siar und Alican vom Osdorfer Born.
Idealistische, kleine Herzensfilme – so nennt Maja Classen ihre ambitionierten Projekte und zweifelt mitunter daran, ob sie in Zukunft ausschließlich davon leben kann. In einem ist sie sich aber sicher: Ihre nächsten Filme werden ähnlich kontrovers sein:

"Ich glaube, dass ich auch in Zukunft, sehr zum Leidwesen meines Freundes, immer Themen machen werde, die schwierig und kontrovers sind, wo man sich ganz reinhängen muss. Mit Haut und Haaren."