Leben im Land der Täter

Von Otto Langels · 25.10.2013
Bis zu 300.000 Juden kamen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in alliierte Auffanglager in Deutschland. Bleiben wollten die wenigsten, doch es dauerte manchmal Jahre, bis sie das Land verlassen konnten. Atina Grossmann sagt, das unerwartet Neben- und Miteinander war meist harmonisch, doch es gab auch Konfrontationen.
"Die kamen aus verschiedenen Richtungen, vom Ghetto, vom Lager, aus Russland, versteckt. Da sind die alle gekommen, weil die haben alle gehofft, weiterzufahren","

berichtet Regina Karolinski, eine ehemalige polnische Zwangsarbeiterin, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin strandete.

Sie war eine von mehr als 250.000 jüdischen Holocaust-Überlebenden, die nach Deutschland kamen – zum Erstaunen der einheimischen Bevölkerung, wie die US-amerikanische Historikerin Atina Grossmann bei ihren Nachforschungen feststellte.

""Ich glaube, wir haben eben dieses Bild, dass Deutschland nach dem Krieg 'judenrein' war, und genau das Gegenteil ist der Fall. Es waren nicht dieselben Juden. Es war dieser winzige Rest der europäischen Judenheit, vor allem aus Polen, vor allem die, die in der Sowjetunion überlebt haben, aber auch die, die aus den Lagern und den Arbeitslagern und den Partisanengruppen und aus dem Versteck kamen."

Alliierte Militäradministrationen und UN-Hilfsorganisationen versorgten die sogenannten Displaced Persons, kurz DPs, und brachten sie zunächst in Lagern unter. Nach kurzer Zeit wohnte aber bereits ein Viertel der DPs außerhalb der Camps. Obwohl sie eigentlich nichts miteinander zu tun haben wollten, waren Begegnungen zwischen Juden und Nichtjuden unvermeidlich.

"Und da haben sie sich ständig mit den Deutschen konfrontiert, auf dem Schwarzmarkt, beim Handeln, zum Teil auch in der Uni, also mehrere Hundert jüdische Überlebende haben auch studiert. Sie haben neben- und miteinander gelebt, meistens harmonisch, manchmal mit Konfrontation. Und natürlich mit einer Vorstellung - das ist das Allerwichtigste - dieses Zusammensein ist vorübergehend."

Aber auch in den Lagern trafen die DPs auf Deutsche. Vor allem Frauen arbeiteten in den Camps, als Sekretärinnen, Küchenhilfen, Putzfrauen, aber auch als Kindermädchen für junge jüdische Mütter, die nicht auf die Hilfe ihrer Mütter und Großmütter zurückgreifen konnten, weil sie im Holocaust umgekommen waren.

"Die deutschen Frauen, zum Teil waren das Kriegswitwen, zum Teil waren das Frauen, deren Männer noch in der Kriegsgefangenschaft waren, die – das war für mich und für viele andere das Allererstaunlichste –, dass die dann diese Babys von dem Nachkriegs-, nach-shoah-jüdischen-Babyboom versorgt haben. Es ging eben von Kinderversorgung zu Im-gemeinsamen-Hörsaal-Sitzen und natürlich auch bis hin zu Beziehungen, sexuellen Beziehungen."

Die Haltung der Juden gegenüber den Deutschen schwankte zwischen Verachtung, Gleichgültigkeit und Pragmatismus. Die Begegnungen, die Atina Grossmann auf der Grundlage umfangreicher Quellenfunde beschreibt, verliefen nicht alle harmonisch, aber selten gewalttätig, wozu die Anwesenheit der Alliierten als eine Art Schutzwall beitrug.

"Es gab natürlich böse Gefühle. Man ging in den Laden und wollte Käse kaufen. Und der Verkäufer war unfreundlich und wollte seinen Käse lieber nur an die Einheimischen verkaufen. Das passierte dauernd."

Die Deutschen boten, wie Atina Grossmann in ihrer eindrucksvollen Darstellung schreibt, das Bild eines mürrischen Volkes, das sich als Opfer einer nationalsozialistischen Verführung stilisierte. Sofern man sich überhaupt einer Verstrickung in die NS-Verbrechen bewusst war, sah man die Schuld durch die Kriegszerstörungen und das Elend der Nachkriegszeit getilgt. Die meisten Deutschen plagte kein schlechtes Gewissen, wenn sie Holocaust-Überlebende trafen.

Umgekehrt dachten die jüdischen DPs kaum an Rache, sie betrachteten Deutschland als Transitraum und wollten auf schnellstem Wege die "verfluchte deutsche Erde" hinter sich lassen.

"Was ganz, ganz wichtig war, war, dass für die jüdischen Überlebenden die Parole war: nach vorne gucken. Also der Zionismus, der Traum einer jüdischen Heimstätte war ganz, ganz wichtig. Und man hatte das Gefühl, Rache nehmen kann man gar nicht. Die beste Rache ist, dass man weiterlebt, dass man Kinder kriegt, dass man sich auf die Zukunft vorbereitet."

Zunächst aber saßen viele DPs in Deutschland fest, die Welt stand ihnen nicht offen. Die Einreise nach Palästina war ungehindert erst nach der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 möglich. Die USA, neben Israel das bevorzugte Ziel, lockerten erst 1950 ihre restriktiven Einwanderungsbestimmungen. Die meisten DP-Lager wurden Anfang der 1950er-Jahre geschlossen, das letzte 1957. Das waren Lager, wo Leute waren, die nicht konnten oder wollten, auswandern. Leute, die zu krank waren, die einfach nicht mehr die Kraft hatten. Oder Leute, die sich inzwischen soweit etabliert hatten, dass sie gesagt hatten, ich möchte noch ein bisschen mehr Geld verdienen, ich möchte mein Studium zu Ende machen, ich möchte meine Ausbildung zu Ende machen.

Rund 15.000 der 250.000 DPs blieben letztlich in Deutschland, Sie waren diejenigen, die die kleinen neuen jüdischen Gemeinden aufbauten.

Atina Grossmann: Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland
Wallstein Verlag, Göttingen 2012,
472 Seiten, 29,90 Euro
Mehr zum Thema