"Le Mensch. Ethik der Identitäten" von Alfred Grosser

Für den Menschen

Buchcover "Le Mensch. Die Ethik der Identitäten" von Alfred Grosser
Buchcover "Le Mensch. Die Ethik der Identitäten" von Alfred Grosser © Dietz Verlag/picture alliance/dpa/Foto: Hans Wiedl
Von Michael Opitz · 18.04.2017
Das gesamte geistige Werk des deutsch-französischen Schriftstellers Alfred Grosser ist auf Vermittlung ausgerichtet – zwischen den Nationen und den Kulturen. Jetzt ist "Le Mensch – Ethik der Identitäten" des 92-Jährigen erschienen.
Alfred Grossers Buch "Le Mensch" ist ein Plädoyer für mehr Toleranz. Als ein Grundübel erweist sich in gegenwärtig geführten Diskursen die Vorliebe zu Verallgemeinerungen: Geurteilt wird über die Deutschen, die Muslime, die Israelis, die Juden usw. Dabei wird – nach Grossers Auffassung – zu wenig differenziert. Deshalb gilt sein Engagement dem Menschen, der als Einzelner "vielfältige Identitäten" besitzt, und der als ein unverwechselbares Individuum zu verstehen ist. Wer mit dem Finger auf "die" Anderen zeigt, entsubjektiviert "den" Menschen, der so einer Gemeinschaft zugeordnet wird, in der er als Subjekt unweigerlich verschwinden muss. Deshalb müsse es darum gehen, so Grosser, den Prozess der Verwandlung "umzukehren", von dem Kafkas gleichnamige Erzählung handelt. Während bei Kafka aus dem Menschen ein Ungeziefer wird, hat sich Grosser der Aufgabe verschrieben, den "Unfreien" in einen Menschen zu verwandeln.
Für den 1925 in Frankfurt am Main geborenen Autor, der 1933 mit seinen Eltern nach Frankreich emigrieren musste, wo er noch immer lebt, erweist sich das Prinzip der "Mitverantwortung" als ein Grundprinzip ethischen Handelns. Grosser, ein bekennender Aufklärer, weiß kenntnisreich zu zitieren, wann und wie gegen die Prinzipien der Menschlichkeit verstoßen worden ist. Man kann den Glauben an die Vernunft verlieren, wenn die vier Massenmörder des XX. Jahrhunderts (Hitler, Pol Pot, Mao und Stalin) trotz der Verbrechen, derer sie sich schuldig gemacht haben, "weiterhin verherrlicht" werden.

Weg vom eigentlichen Thema

In Grossers Buch aber führen solche Exkurse und die Vielzahl an Beispielen, auf die er immer wieder hinweist, oft von seinem eigentlichen Thema weg. Andererseits hätte man sich zu aktuellen Fragestellungen, wie der gegenwärtigen Flüchtlingspolitik, eine stärkere Durchdringung der Problematik gewünscht. Es bleibt unklar, was als Befürchtung mitschwingt, wenn Grosser die Frage aufwirft: "Wird man künftig und dauerhaft jeden neuen Andrang (von Flüchtenden) abwehren können?" Denn sein daran anschließendes Resümee: "Eine Diskussion über die absehbare Zukunft sollte für alle Institutionen der EU zentral sein, denn gerade diese Zukunft wird wahrscheinlich die Identität des organisierten Europas in Wanken bringen", scheint doch Grossers eigenem Ansatz eher zu widersprechen.
Das "Verständnis für die Leiden anderer", für Grosser die beinahe "höchste aller Tugenden", kann nur vor dem Hintergrund der Leiden – und in diesem Fall "der" Menschen – diskutiert werden. Wie schwierig es ist, dabei stets an einzelne Schicksale zu denken, führt Grosser vor, wenn er fragt, ob es ein weiteres Mal gelingen kann, den "Andrang" der Flüchtenden "abzuwehren"? Denn wenn es ein ethisches Grundprinzip ist, wie Grosser ausführt, den Anderen in seinem Anderssein zu akzeptieren, dann muss dem Anderen das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein zugestanden werden, dann kann er nicht "abgewehrt" werden. Der Vorteil von Grossers Buch besteht darin, dass es solche Fragen herausfordert, ohne sie allerdings beantworten zu können.

Alfred Grosser: "Le Mensch. Die Ethik der Identitäten"
Dietz Verlag, Bonn 2017
288 Seiten, 24,99 Euro