Last und Lust des Umziehens (6)

Lagerkoller

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Die Füße eines Paares im Bett © imago / McPHOTO
Von Franziska Gerstenberg · 20.02.2015
Für die Lesart-Reihe "Originalton" hat die Autorin Franziska Gerstenberg Minidramen verfasst, in denen sie mit ihrem Lebensgefährten anschaulich macht, was einem widerfährt, wenn man umziehen will. Heute: Die Sehnsucht nach dem alten Leben.
F: Das Müsli ist alle.
M: Macht ja nichts. Dann frühstücken wir heute Knäckebrot.
F: Aber du hast gesagt, dass du gern Müsli isst.
M: Ich habe gesagt, dass ich mehr Müsli esse. Mehr Müsli als früher. Als ich noch allein gewohnt habe im Ruhrgebiet.
F: Dann magst du gar kein Müsli?
M: Doch.
F: Aber du würdest eigentlich lieber Knäckebrot essen? Wenn du noch allein wohnen würdest?
M: Zumindest esse ich lieber Knäckebrot, als vor dem Frühstück zum Konsum zu gehen und Müsli zu kaufen.
F: Ich könnte schnell Müsli kaufen gehen.
M: Wenn du möchtest.
F: Du bist ja nicht mehr allein. Ich könnte für dich Müsli kaufen gehen.
M: Ja.
F: Möchtest du das?
M: Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich möchte.
Gefangenenchor. Der italienische Cousin zur Ukulele.
F: Gibt es heute Abend eine DVD oder wollen wir noch arbeiten?
M: Was möchtest du denn?
F: Also.
M: Ja?
F: Wenn ich jetzt sage, dass ich heute Abend das machen möchte, was du möchtest, dann macht dich das wütend, oder?
M: Quatsch, ich bin nicht wütend.
F: Ich möchte gern mit dir eine DVD gucken. Aber wenn du noch arbeiten musst, dann kann ich auch warten. Oder wir arbeiten beide. Den ganzen Abend.
M: Arghhh.
F: Siehst du, wütend.
M: Aber was würdest du denn machen, heute Abend, wenn du noch allein in Berlin wohnen würdest?
F: Ich hätte Sehnsucht nach dir.
M: Aber du kanntest mich doch noch gar nicht, in Berlin.
F: Ich hatte schon Sehnsucht nach dir, bevor wir uns getroffen haben.
Gefangenenchor. Der italienische Cousin zur Ukulele.
M: Ich halte das nicht mehr aus.
F: Was ist denn?
M: Arghhh.
F: Was denn?
M: Ich habe Lagerkoller.
F: Kann ich etwas für dich tun?
M: Das ist es ja gerade. Immer willst du was für mich tun. Du bist so nett, dass ich mich daran gewöhnt habe, und jetzt bin ich davon genervt, weil das Nettsein mein Alltag ist.
F: Ich soll weniger nett zu dir sein?
M: Nein. Aber jemand anderes. Ich muss mal jemanden treffen, der nicht immer nett ist, sondern von sich aus im Alltag garstig. Damit ich den Unterschied spüre.
F: Wen den?
M: Ich weiß nicht. Freunde. Meinen schrecklichen italienischen Cousin zum Beispiel.
F: Gut. Dann fahre ich übers Wochenende weg. Und du lädst deine Freunde ein. Und deinen italienischen Cousin.
M: Jetzt bist du beleidigt.
F: Nein. Nein! Für mich ist das bestimmt auch gut. Glaub mir. Wirklich.
Gefangenenchor. Der italienische Cousin zur Ukulele.
Telefonklingeln.
M: (laut) Warte, ich gehe schnell auf den Flur.
F: Sitzt ihr in der Küche?
M: Ja. So. Jetzt ist es besser.
F: Ach, unsere Küche. Wie ist es denn? Ist der Cousin da?
M: Allerdings, ist er.
F: Und?
M: Er redet. Unfassbar, was der an einem Abend redet. Und er singt und ist betrunken. Alle anderen sind auch betrunken.
F: Und du?
M: Ich bin allerdings nüchtern.
F: Wir geht es dir denn?
M: Ich vermisse dich. Ich vermisse dich praktisch, seitdem du die Tür hinter dir zugezogen hast.
F: Ach. Das war ja eigentlich nicht der Plan.
M: Das weiß ich. Aber was soll ich machen. Wie ist denn Berlin?
F: Nett. Scheußlich. So wie früher. Ich wünschte, du wärest hier.
M: Weißt du was, ich schmeiße die raus und setze mich ins Auto. In zwei Stunden bin ich da.
F: Das kannst du nicht machen.
M: Okay. Ich schleiche mich aus der Wohnung und lasse die allein weiterfeiern, das merken die gar nicht.
F: Und dann?
M: Dann nehmen wir uns ein Hotel!
F: [lacht] Als würden wir noch gar nicht zusammenwohnen.
M: Als wäre noch alles offen.
M: Ja!
F: Ja!
M+F gleichzeitig: So wie früher!
Gefangenenchor, betrunken. Der italienische Cousin zur Ukulele.

Franziska Gerstenberg
wurde 1979 in Dresden geboren. Nach dem Abitur arbeitete sie an einer Schule für geistig behinderte Jugendliche. Von 1998 bis 2002 studierte sie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig die Fächer Prosa, Lyrik und Dramatik/Neue Medien, danach war sie zwei Jahre lang Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift "EDIT – Papier für neue Texte". Für die beiden Erzählbände "Wie viel Vögel" (2004) und "Solche Geschenke" (2007) erhielt Franziska Gerstenberg zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem ein Stipendium der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart. 2012 erschien der erste Roman mit dem Titel "Spiel mit ihr". Dafür wurde ihr 2013 der Förderpreis zum Lessing-Preis des Freistaates Sachsen verliehen. Die Autorin leitet Schreibseminare und lektoriert.