"Lass ihn kreuzigen"

Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 31.10.2009
Kaum ein Komponist hat der Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu ein so schönes, musikalisches Denkmal gesetzt wie Johann Sebastian Bach. Was jedoch nach wie vor für heftige Debatten sorgt, ist die Darstellung der Juden in den Passionstexten. Was den einen als judenfeindlich gilt, finden die anderen harmlos.
"Im überfüllten Dom ergreift und erschüttert mich Bachs herrliche Musik der Matthäus-Passion. Schlimm finde ich nur den Text. Vom Judas, der Jesus verriet über "Juda verrecke" bis Auschwitz sehe ich eine deutliche psychologische Verbindung. Immer wenn der Evangelist den Namen "Judas" singt, schrecke ich zusammen und mir ist, als wenn er mich meint."

Mit diesen Zeilen erinnerte sich der Geiger und Schriftsteller Michael Wieck 1989 in seinem Buch über den Untergang Königsbergs an die Aufführung einer Matthäus-Passion, die er als Junge während des Dritten Reichs im Dom zu Königsberg erlebte. Wieck, nach der Rassenarithmetik der Nationalsozialisten "Halbjude", hat diese Episode nie mehr vergessen:

"Im persönlichen Briefwechsel hat er mir bestätigt, dass das bis heute so ist. Er ist Berufsmusiker geworden und sagt: Ich zucke noch immer zusammen."

Berichtet Johann Michael Schmidt, Organist und emeritierter Professor für evangelische Theologie an der Universität Köln.

Eine ganz andere Reaktion auf dieselbe Musik finden wir etwa bei dem evangelischen Widerstandskämpfer Klaus Bonhoeffer:

"Zur gleichen Zeit, in der gleichen lebensbedrohlichen Situation schreibt Klaus Bonhoeffer, der ältere Bruder von Dietrich bei seinem letzten Besuch des Bruders im Gefängnis vor der Vollstreckung. Der Bruder erzählt: Zum Tode verurteilt, sagte er - Klaus Bonhoeffer - er brauche nichts weiter, er habe die Matthäuspassion bei sich. Und als ich meinte, es sei doch schön, dass er bei der Lektüre die Musik hören könne, sagte er: ja, aber auch der Text, der Text."

Zwei Menschen - ein Jude und ein Christ - die Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion offenbar völlig unterschiedlich wahrnehmen, ja, mit verschiedenen Ohren zu hören scheinen. Und doch, so Schmidt, genüge es, einen Blick in Textbuch und Partitur zu werfen, um antijudaistische Töne auszumachen. Aber vielleicht brauche man dafür eine geschärfte Wahrnehmung:

"Die Frage nach judenfeindlichen Tönen in der "Matthäus"- und "Johannespassion" ist eine Frage an die Hörenden oder Aufführenden. Es ist eine Frage der Wahrnehmung. Ich habe jahrelang die "Matthäuspassion" gespielt, gehört und gesungen und nie daran gedacht, dass das etwas mit den Judenverfolgungen oder gar mit Auschwitz zu tun habe. Und so erlebe ich noch immer die Mehrheit der Zuhörenden, wenn ich mit Chören arbeite. Aber es gibt eine kleine Minderheit, die als Juden das hören. Es kommt also darauf an: wie höre ich diese Texte?"

Von Johann Sebastian Bach sind zwei Passionen erhalten, die sich auf die Evangelien des Matthäus und des Johannes stützen. Es sind die Evangelienberichte, die die schärfsten judenfeindlichen Äußerungen enthalten:

"Das ist bei Matthäus dieses fürchterliche Wort "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder". Dieses Wort hat, so kann man wirklich sagen, eine Blutspur hinterlassen, weil es spätestens seit den Kreuzzügen missbraucht wurde, um Judenverfolgungen zu legitimieren. Im Johannesevangelium gibt es eine ähnlich schreckliche Äußerung, die den Juden in den Mund gelegt worden ist - es sind ja keine historischen Berichte, sondern einseitige Darstellungen aus einer aktuellen Perspektive. Das ist das Wort: Wir haben keinen König denn den Kaiser.

Das antworten die Juden auf die Frage des Pilatus: "Wollt ihr, dass ich euren König kreuzige?" Da kommt die Antwort: "Wir haben keinen König." Das heißt: Verwerfung ihres eigenen Gottesbekenntnisses, denn Gott ist ihr König. Das heißt: ausgerechnet diese beiden Evangelien, die die Rolle der Juden in der Passionsgeschichte besonders krass, schwarz und aggressiv malen, sind von Bach vertont und werden Jahr für Jahr überall aufgeführt."

Bleibt festzuhalten: Der Bibeltext berichtet ein schreckliches Geschehen und - lastet die Schuld an diesem Geschehen einseitig dem ganzen jüdischen Volk an:

"Der Hauptvorwurf in beiden Passionen ist, dass Pilatus eigentlich von der Unschuld Jesu überzeugt war und ihn mit allen Mitteln freibekommen wollte, aber, historisch völlig irrelevant, sich vom Volk der Juden abhängig gemacht und sie gefragt hat: wen soll ich euch freigeben: Barrabas oder Jesus? Und die Juden dann "Barrabas" geantwortet haben sollen.

Das heißt: Beide Evangelien schreiben die Hauptschuld für die Verurteilung Jesu den Juden pauschal zu und entlasten im gleichen Maße Pilatus, während das älteste Evangelium Markus eigentlich noch die historische Wahrscheinlichkeit durchschimmern lässt, dass das eine rein politische Angelegenheit der römischen Obrigkeit war; dass Juden zwar beteiligt gewesen sind, das sind diejenigen, die in Jerusalem für Ruhe und Ordnung am Tempel zuständig waren, Hohepriester oder Stadtälteste haben wahrscheinlich begrenzt mit den Römern zusammengewirkt, aber eine Beteiligung des Volkes ist historisch jenseits des Vorstellbaren."

Dass diese judenfeindlichen Äußerungen in den Evangelien damals allerdings Resultat schwelender, innerjüdischer Konflikte waren und aus einer besonderen historisch-politischen Situation im römischen Reich heraus entstanden sind - das ist im Lauf der Jahrhunderte immer wieder in Vergessenheit geraten. Es wäre aber wichtig, sich dieser innerjüdischen Querelen bewusst zu sein, um die "Judenfeindschaft" dieser beiden Evangelien einordnen zu können:

"Als die Evangelien entstanden, waren die Gemeinden, in denen sie entstanden sind, noch jüdisch. Und sofern sie nach 70, also nach der Zerstörung Jerusalems entstanden, waren sie beteiligt an der Frage: Was nun? Der Tempel ist verloren. Was kann an dessen Stelle treten? Die Juden, die in Jesus den Messias erkannt zu haben glaubten, haben die Antwort mit Blick auf Jesus gegeben. Jesus ist sozusagen an die Stelle des Tempels für sie getreten. Und jetzt gibt es in dieser Zeit nach 70 heftige Auseinandersetzungen - innerjüdisch!

Das Problem ist nur: Als diese Evangelien ein halbes Jahrhundert später Kanon wurden, war die Kirche - wenn wir sie so schon nennen dürfen - eine völkerchristliche Kirche geworden und die jüdischen Mitglieder aus der Anfangszeit waren hinausgedrängt worden. Das heißt: Mehrheitlich waren die Gemeinden, war die Kirche, die dann diese Schriften zum Kanon erhoben hat, völkerchristlich oder, wie man früher sagte, heidenchristlich."

Und das wiederum bedeutete, dass diese Texte nun nicht mehr als Konflikte zweier unterschiedlicher, jüdischer Gruppierungen gelesen wurden, sondern als Texte von Christen und Juden:

"Und wenn es dort heißt: "Die Juden aber schrien: Kreuzige ... ", dann waren es die Juden. Das ist der entscheidende Punkt. Und so in dieser Wahrnehmung haben die Texte seit dem 2. Jahrhundert gewirkt. Bis heute."

Natürlich bleiben Fragen: Was werfen wir Johann Sebastian Bach vor? Die Texte, denen er Klang und Stimme gab, lauten schließlich so. Darf man also Bach für etwas anklagen, was eigentlich den Evangelisten anzukreiden wäre? Und außerdem - die Absicht dieser Evangelisten lag ja auch nicht in einer Art historisch-distanzierter "Reportage", sondern in einer rückschauenden theologischen Deutung, dass am Kreuz das Erlösungswerk Jesu vollendet wurde.

Dass Bach als Person ein Judenfeind gewesen sei - das lässt sich nicht belegen. Aber der Thomaskantor lebte und arbeitete er in einer von Martin Luthers Theologie geprägten Kirche. Und diese Theologie war antijüdisch. Ob Bach Luthers judenfeindliche Schriften gekannt hat, wissen wir nicht, aber:

"Wir wissen, dass er in seiner theologischen Bibliothek zwei vollständige Werkausgaben von Luther besessen hat, weil seine Witwe die hinterher verkauft hat. Und darin finden sich auch Werke, die sich ausdrücklich mit dieser Thematik beschäftigen. Theologisch bis hin zu den entscheidenden Fragen: Wie steht's mit Römer neun bis elf, also mit der Frage: haben die Juden noch eine Chance, doch am Heil teilzuhaben oder nicht? Das heißt: Bach hat Kenntnis gehabt von dieser Problematik."

Die sich in der Matthäuspassion wohl am eindrücklichsten in der Szene niederschlägt, in der sich, kurz vor dem Urteil, das Ringen zwischen Pontius Pilatus und den Juden zuspitzt:

"Dann kommt das erste Mal: "Lasse ihn kreuzigen." Die unmittelbare Antwort von Bach darauf ist ein Choral: "Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe." Das heißt, dieser Chor hebt völlig auf die Heilsbedeutung des Sterbens Jesu ab. Die traditionelle Heilsvorstellung des Sühneleidens ist für Bach wichtig. Dann geht der Bibeltext weiter: der Landpfleger sagte: "Was hat er Übles getan?" Diese Frage nimmt Bach zum Anlass, zwei Arien einzufügen: "Er hat uns allen wohlgetan" und dann diese besonders überwältigende Arie "Aus Liebe will mein Heiland sterben." Dann geht's wieder weiter: "sie schrien aber noch mehr und sprachen: lass ihn kreuzigen, derselbe Chor wiederholt, aber um einen Ton höher, also noch mal intensiver."

Bald nach ihrer Entstehung ist die "Matthäuspassion" 100 Jahre lang aus dem Bewusstsein der Musikwelt verschwunden. Erst 1829 führt sie ein als Jude geborener, zum Protestantismus konvertierter Christ wieder auf, Felix Mendelssohn-Bartholdy:

"Eines wird man mir nicht vergessen: das ich als Judenjunge den Christen ihre größte christliche Musik wiedergebracht habe."

Ruft der Mann aus, der wegen seines Judeseins von einem Preußenprinzen angepöbelt wurde. Und so gerät das Werk in der Zeit des aufkommenden, völkischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts erneut eine Weile in Vergessenheit.

Erst unter dem Einfluss des bekennenden Antisemiten Richard Wagner, tritt es dann seinen Siegeszug durch Kirchen und Konzertsäle an:

"Und wenn man mal sehr genau den "Parsifal" sich anschaut mit seinen Karfreitagsszenen, dann ist da eine solche Nähe vom Thema her mit der "Matthäuspassion", dass es verständlich wurde, dass dann seit Ende des 19. Jahrhunderts für die gebildeten Schichten des Bürgertums Karfreitag bestimmt war von der "Matthäuspassion" und vom "Parsifal". Und das ist ja nun die Frage, wie weit auch die Musik Wagners den Antisemitismus, den er ja nun zeitlebens und in aller wünschenswerten Deutlichkeit geäußert hat, wie weit auch die Musik diesen Antisemitismus transportiert."

Nun stellt sich die Frage, wie man vor diesem Hintergrund diese beiden Passionen heute aufführen soll. Eine allgemeingültige Antwort, so hat Johann Michael Schmidt einmal dazu geschrieben, könne es nicht geben. Geben müsse es aber eine geschärfte Wahrnehmung der judenfeindlichen Bibeltexte und vor allem ihrer Wirkungsgeschichte:

"Dann stellen sich bedrängende Fragen: Lassen sich Klage und Trauer über Golgatha und Klage und Trauer über Auschwitz zusammen aussprechen und hören? Könnte die Klage über Leiden und Tod von "Gottes Sohn" Jesus eine Brücke schlagen? Die, die diese Brücke betreten, sollten bedenken, was sie tun; was sie sich selbst und anderen, Juden und Christen, zumuten."