L.A. Short Cuts

Auf der Suche nach dem Anfang und dem Ende

Der Palms Drive in der US-amerikanischen Millionenstadt Los Angeles
Unterwegs auf dem Palms Drive in L.A. © dpa picture alliance / Jerzy Dabrowski
Von Gerhard Falkner · 28.11.2014
Einen "Hyperrealismus der permanenten urbanen Spontanerschaffung" beobachtet der Lyriker Gerhard Falkner in der kalifornischen Metropole L.A. Im "Originalton" beschreibt der Autor seine Eindrücke von der Stadt.
L.A. hat keinen Beginn und kein Ende. Wenn man meint, man wäre irgendwo angekommen, muss man einfach nur weiterfahren, und die Vermutung hat sich erledigt. Man ist zwar geneigt, das, was sich durchs Autofenster gerade unseren Blick schnappt, für L.A. zu halten, aber diese Illusion täuscht sogar die Einheimischen.
Alles was man weiß oder zu kennen glaubt reproduziert sich unaufhörlich und der einzige Ort, für den man eine Art Gewähr hat, ist der, auf dem man sich gerade befindet oder soeben seinen Fuß setzt. Der, von dem man nach dorthin aufbrach, ist beseitigt, genauer gesagt ersetzt. Das Problem der Vergangenheit wird nicht durch die Erinnerung gelöst, sondern durch den Rückspiegel. Die Einheimischen sind nur an einem Ort daheim, nämlich im Bett und nur wenn sie schlafen. Sobald man wach ist übernimmt der Hyperrealismus der permanenten urbanen Spontanerschaffung wieder das Ruder.
Dann gibt es, aber immer nur für das gerade anwesende und diensttuende Auge, die großen Häuser, in denen die Reichen wohnen, die kleinen, in denen die "Nicht-Reichen" wohnen, oder die Nicht- Häuser, in denen nicht einmal die Niemands wohnen, denn für die wurde ein Leben ohne zu wohnen erfunden. Wo man sich aber gerade befindet, kann überall sein. Warum sollte es jenseits von Bel Air nicht mit der Arktis oder Kuala Lumpur weitergehen. Wer sich überrascht zeigen würde, dass es an einer Stelle nicht so weitergeht, wie aus der vorhergehenden zu vermuten war, verhielte sich ausgesprochen uncool. Man könnte zum Beispiel entlang des betonierten L.A. River auch durch ein stadtteilgroßes Kernkraftwerk gefahren sein, und sobald man aus seinen Kühlkreisen heraus fährt, geht's auf dem Sepulveda Blvd mit der bekannten Mischung von Licht und Beton, von Rot Grün Gelb und Blau weiter.
Phänomenale Magistralen durchglitzern die Stadt, die sich ausschließlich der Stückelung durch Kreuzungen unterwerfen. Entscheidend für den Grad der gefühlten Wirklichkeit ist nur, wie breit die Straße ist und in welchen Abständen ihr die Strip Malls in die Parade fahren. Die Überdeutlichkeit ist geradezu der Beleg für die Unwahrscheinlichkeit, dass ihr irgendetwas physisch zugrunde liegt. Die Überdeutlichkeit wölbt sich wie ein Panzer über das durch sie vernebelte und verhüllte Phänomen der Non-Existence.
Das Reale, durch seine Überdeutlichkeit repräsentierte, ist potentiell da und aufrufbar, nähme aber bei dauernder Anwesenheit zu viel Platz weg und hätte vermutlich auch nicht den Nerv dazu. So ist die Vermutung, dass das Getty Center ein Ort für die Kunst ist, völlig aus der Luft gegriffen. Es thront wie die "Steinerne Krone Apuliens", also das berühmte Castel del Monte des beglückenden Stauffischen Kaisers, hoch über dem Sunset Blvd, kurz bevor er den San Diego Freeway kreuzt. Aber der Ort erlischt in exakt dem gleichen Maße wie das riesige Parkhaus sich leert. Sobald das Haus leer ist hat die Kunst ihre Anwesenheit eingebüßt.
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt eine tägliche Rubrik unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftsteller bitten. Die Originaltöne dieser Woche stammen von dem Lyriker Gerhard Falkner. Es sind Schnipsel aus der Werkstatt des Autoren, Texte und Gedankensplitter, die Auskunft geben über das, was ihn gerade interessiert. Produktion: Sebastian Schwesinger..

Gerhard Falkner (*1951 Schwabach) lebt als Lyriker, Romancier, Dramatiker, Essayist und Übersetzer in Berlin und Bayern. Er gehört zu den bedeutenden Dichtern der Gegenwart. Nach einem Stipendium am Literarischen Colloquium Berlin legte Falkner mit dem Band "Berlin – Eisenherzbriefe" (1986) einen der zentralen postmodernen Mischtexte vor. 1997 erschien mit "Voice an Void. The poetry of Gerhard Falkner" von Neil Donahue die erste Monographie.
Für die Novelle "Bruno" erhielt Falkner 2008 den Kranichsteiner Literaturpreis und den August Graf von Platen-Preis. 2010 wurde er mit dem Preis der Stadt Nürnberg ausgezeichnet.
In ihrer Begründung für den Peter-Huchel-Preis 2009, den er für seinen Gedichtband "Hölderlin Reparatur" würdigte die Jury Falkners "Möglichkeiten sublimen Sprechens in einer Zeit beschädigter Sprachwelten". Seine "Pergamon-Poems" wurden erst kürzlich im Pergamon Museum in Berlin gezeigt und von Mitgliedern der Schaubühne interpretiert. 2013 war er der erste Fellow für Literatur an der neugegründeten Kulturakademie Tarabya in Istanbul. 2014 verbrachte er mehrere Monate in der Villa Aurora in Los Angeles. Soeben erschien sein neuester Gedichtband: "Ignatien" (mit Bildern des Schweizer Künstlers Yves Netzhammer).

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