L.A. SHORT CUTS

14 Millionen Wassergucker

Blick auf den Santa Monica State Beach im kalifornischen Los Angeles, im Hintergrund sind Hochhäuser zu sehen
Santa Monica State Beach im kalifornischen Los Angeles © imago/Westend61
Von Gerhard Falkner · 27.12.2014
In den kommenden Tagen erinnern wir uns noch einmal an die Viefalt der Originaltöne in der "Lesart". Heute eröffnet der Lyriker Gerhard Falkner unsere akustische Rückschau mit Gedanken zu den Metropolen Los Angeles und Istanbul - ein bislang ungesendeter Teil seiner "L.A. Short Cuts", die in Zusammenarbeit mit dem Soundkünstler Sebastian Schwesinger entstanden.
Zwei unvergleichliche Städte: Los Angeles und Istanbul.
Unvergleichlich in der doppelten Bedeutung von einzigartig und nicht vergleichbar. Beides Agglomerationen mit einem Mittelwert von etwa 14 Millionen Wasserguckern, die Dunkelziffer schwankt. Die Metropolregionen halten sich an ihre unterschiedlichen Definitionen. (Asien schlägt sie natürlich alle, leider). Beides von Haus aus horizontale Städte, die sich diesbezüglich gerade neu besinnen. Beide so gut wie auf Augenhöhe mit dem Meeresspiegel, obwohl die eine das Meer liebt und umarmt, die andere es verachtet und im Gegenzug von diesem verachtet wird. Beide fürchten sie die Brände, die Erdbeben und den Smog. Beide wachsen amorph in die Fläche. Das "Dorf der Königen der Engel" und die Stadt, die aus dem Namen "in die Stadt" hervor ging, beides Städte der Aquädukte, da das Wasser die Überlebensfähigkeit bedeutete und bedeutet. Mulholland und Valens. Amerikaner und Römer. Weltreiche. Ostrom und der Westen der USA.
Über 4000 Quadratkilometer überziehen sie beide mit Beton und Asphalt. Die Santa Monica Bucht und das Schwarze Meer, das leuchtende Kara Deniz, der Pazifik und das Marmara Meer. Die Dorade und der Weiße Hai. L.A. mit der größten Kfz-Dichte der Welt, Istanbul mit der größten Kfz-Belästigung der Welt.
Die Anatolische Platte schrammt gegen die Eurasische Platte, die San-Andreas-Verwerfung an die Puente-Hills-Verwerfung. Es sind die Schweißnähte der Erde, die sie tragen. Erdbeben mit den resultierenden Tsunamis sind die Folge. Der heißeste Tanz auf dem Vulkan wird von den Metropolen getanzt. Beides Städte von geradezu entgegengesetzter Schönheit, die eine, sublim, bewohnt von Menschen, die andere, super, bewohnt von Amerikanern.

Gerhard Falkner (*1951 Schwabach) lebt als Lyriker, Romancier, Dramatiker, Essayist und Übersetzer in Berlin und Bayern. Er gehört zu den bedeutenden Dichtern der Gegenwart. Nach einem Stipendium am Literarischen Colloquium Berlin legte Falkner mit dem Band "Berlin – Eisenherzbriefe" (1986) einen der zentralen postmodernen Mischtexte vor. 1997 erschien mit "Voice an Void. The poetry of Gerhard Falkner" von Neil Donahue die erste Monographie. Für die Novelle "Bruno" erhielt Falkner 2008 den Kranichsteiner Literaturpreis und den August Graf von Platen-Preis. 2010 wurde er mit dem Preis der Stadt Nürnberg ausgezeichnet. In ihrer Begründung für den Peter-Huchel-Preis 2009, den er für seinen Gedichtband "Hölderlin Reparatur" würdigte die Jury Falkners "Möglichkeiten sublimen Sprechens in einer Zeit beschädigter Sprachwelten". Seine "Pergamon-Poems" wurden erst kürzlich im Pergamon Museum in Berlin gezeigt und von Mitgliedern der Schaubühne interpretiert.
2013 war er der erste Fellow für Literatur an der neugegründeten Kulturakademie Tarabya in Istanbul. 2014 verbrachte er mehrere Monate in der Villa Aurora in Los Angeles. Soeben erschien sein neuester Gedichtband: "Ignatien" (mit Bildern des Schweizer Künstlers Yves Netzhammer).

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