Kuscheln ist Menschenrecht

Martin Grunwald im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler · 11.02.2013
Menschen in jedem Alter seien auf Hautkontakt und Berührungen angewiesen, sagt der Psychologe Martin Grunwald. Sonst schlage ihnen der Mangel an Nähe und Wärme auf das seelische Gleichgewicht. Da gehe es dem homo sapiens nicht anders als den übrigen Säugetieren.
Jan-Christoph Kitzler: Wie kommen wir Menschen in der Welt zurecht, wie orientieren wir uns? Na klar, über unserer Sinne. Wir schauen auf die Dinge, die uns umgeben, wir hören, riechen und schmecken unsere Umwelt. Und wir tasten uns durchs Leben. Unsere Haut besitzt Millionen Berührungsmelder, die Informationen ans Gehirn weiterleiten, meist ohne dass wir das groß merken. Und obwohl der Tastsinn bei Embryos als allererstes funktioniert, könnte man den Eindruck bekommen, dass das Tasten in unserer Welt voller lauter, greller Reize etwas unter die Räder kommt. Auch im Umgang mit anderen Menschen, bei den Berührungen untereinander. Wie steht es also um unseren Tastsinn? Darüber spreche ich mit einem, der das erforscht, mit Martin Grunwald, er ist Psychologe und Leiter des einzigen Haptiklabors in Europa an der Universität Leipzig. Schönen guten Morgen, Herr Grunwald!

Martin Grunwald: Ja, guten Morgen!

Kitzler: Viele Menschen funktionieren ja ganz stark über optische Reize, unsere Radiohörer haben vielleicht einen besonders sensiblen Hörsinn – wie sehen Sie das, ist unser Tastsinn in dieser Zeit unterentwickelt oder vielleicht unterfordert?

Grunwald: Nun, ich denke schon, dass es einen allgemeinen Trend der Unterforderung unseres Tastsinnessystems zu verzeichnen gibt. Schauen Sie, unsere technischen Umgebungen, unsere Alltagsumgebungen werden immer eindimensionaler, wie wir das formulieren, die Oberflächen werden immer glatter, Beispiel die neue Smartphone-Entwicklung. Also alles Glas und glatt und wenig strukturiert. Also von daher denke ich, verändert sich auch unsere Umwelt sehr stark.

Und die zweite Ebene ist, dass ich denke, dass wir auch viel weniger in unserer, ja, Umwelt, in unserer natürlichen Umwelt interagieren. Das heißt, wir sind in unserem Alltag vorwiegend in Räumen, in strukturierten Räumen und wenig in der viel beschworenen und viel besungenen Natur. Aber da gehören wir eigentlich mehr hin, als uns eigentlich lieb ist.

Kitzler: Ein großes Thema sind natürlich auch die Berührungen untereinander, mit den Mitmenschen. Kann man eigentlich krank werden, wenn man davon zu wenig bekommt?

Grunwald: Also, das weiß die Forschung, dass Kleinkinder sich nicht richtig entwickeln, sich nicht gesund entwickeln können, wenn sie nicht ein Mindestmaß an Körperberührungen, an Körperinteraktion erfahren. Und diesen Befund, den sehen wir also auch im Tierreich, bei allen Säugetieren können Sie diesen Effekt nachweisen. Wir sind angewiesen auf Körperberührungen ein Leben lang. Wir können es dann aber als Erwachsene und ältere Menschen, können wir das durch andere Dinge teilweise kompensieren. Aber da beißt die Maus keinen Faden ab, wenn wir über längere Zeit auf Körperinteraktion, auf Körperkontakt verzichten müssen, dann schlägt sich das auf unser seelisches Gleichgewicht nieder und es geht uns nicht gut.

Das Problem ist, dass wir das oft nicht als solches erkennen können. Also, die wenigsten Menschen äußern sich in der Weise, dass sie sagen, also mir geht es nicht gut, weil mich so lange niemand mehr berührt hat. Da werden alle möglichen anderen Ideen präferiert, aber der mangelnde Körperkontakt, das fällt den wenigsten Menschen direkt auf.

Kitzler: Also stellen wir uns mal vor, der Tastsinn ist nicht gesund, er krankt. Was für Folgen kann das für uns haben?

Grunwald: Also eine sehr schwere Form der Tastsinnesstörung sind zum Beispiel sogenannte Körperschemastörungen, die wir bei Patienten mit Anorexia nervosa, also mit Magersucht beobachten können. Und bei diesen Patienten ist es so, dass im Gehirn die eintreffenden Tastinformationen auch über den eigenen Körper nicht richtig verarbeitet werden, und die Folge dieser Verarbeitungsstörung im Gehirn ist dann ein, ja, völlig desolates, inadäquates Körperschema, und das bedeutet, dass der eigene Körper ganz anders wahrgenommen wird als er sich real darstellt. Also, anorexische Patienten erleben ihren Körper breit, fett und aufgedunsen, sind aber in der Regel ein trauriger Strich in der Landschaft. Und eine Möglichkeit, diese Verarbeitungsstörung des Gehirns zu korrigieren oder zu verbessern, besteht auch darin, wie wir das also versucht haben, mit einem maßgeschneiderten Neoprenanzug dem Gehirn zu helfen, den eigenen Körper quasi besser zu erkennen.

Kitzler: Unsere Zeit ist ja, wie man so sagt, oversexed, das heißt, es gibt viele Bilder im Alltag, Filme, Werbung, die uns erotisch irgendwie anmachen sollen. Und wie ist das denn, wenn dabei dann das Thema Berührungen so verkümmert?

Grunwald: Ja, das ist so ein eigentümlicher Zwiespalt. Auf der einen Seite wird die Umwelt und viele Reize der äußeren Welt werden sexualisiert, und das soll immer höher, schneller, weiter und leichter und, ja, unkomplizierter vonstatten gehen, der sexuell vermittelte Körperkontakt. Auf der anderen Seite sieht man schon auch den Trend, dass die Alltagsberührungen der Menschen, auf die wir ja so elementar auch angewiesen sind, im Arbeitsumfeld, im Privaten, dass diese alltäglichen, kleinen Berührungen immer weniger werden und zum Teil eben auch gemieden werden, weil man Politische Correctness an den Tag legen möchte oder Angst hat, hier bestimmte Grenzen zu überschreiten.

Also ich sehe da ein gewisses Paradoxon, dass wir einerseits dieser Berührungen untereinander bedürfen, um uns wohlzufühlen und uns auch sicher zu fühlen, und andererseits hat man die Beobachtung gemacht, dass diese Berührungen also auch immer weniger werden. Und das ist sicher kein guter Trend.

Kitzler: Der Psychologe Martin Grunwald, er leitet das Haptiklabor an der Universität Leipzig. Ich verabschiede mich leider ganz ohne irgendwelche Berührung. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch, Herr Grunwald!

Grunwald: Ebenso. Salut!

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