Kurzgeschichten

Was die Digitalisierung mit uns anstellt

Das Wort "Shitstorm" steht im Duden
Der "Shitstorm" ist bereits im Duden angekommen: Auch eine Kurzgeschichte beschäftigt sich mit dem Phänomen. © dpa / Jens Kalaene
Von Edelgard Abenstein · 18.08.2014
Weil ein Crack-Dealer auf einer Campus-Party zugekokst über einer schlafenden Studentin onaniert hat, zieht er im Netz einen Shitstorm auf sich. Das ist nur eine Story von insgesamt vier grotesk-überdrehten Kurzgeschichten des US-Schriftstellers Joshua Cohen.
Nachrichten, das sind aktuelle, für Millionen bestimmte Informationen. Aber damit ist auch die ganz private Korrespondenz gemeint, wenn der eigene E-Mail-Account "Neue Nachrichten" ankündigt.
Der Titel verweist also schon auf die Internetära, in der die Grenzen zwischen Allgemeinem und Persönlichem zerfließen. Taufrisch ist diese Erkenntnis zwar nicht. Doch neben Vorhersehbarem deklinieren Joshua Cohens vier Kurzgeschichten auch in grotesk-überdrehten Varianten durch, was die Digitalisierung mit uns so alles anstellt.
Da ist ein Crack-Dealer ("Emission"), der im Netz einen Shitstorm auf sich zieht, weil er auf einer Campus-Party zugekokst über einer schlafenden Studentin onaniert hat. Jeder Versuch, seine Daten zu löschen, misslingt, seine öffentliche Identität als "Widerling" ist zementiert.
In "McDonald's" schreibt ein Jungschriftsteller - hauptberuflich liest er Beipackzettel für Antidepressiva Korrektur - ein Drehbuch für Splatter-Movies, wobei er aus Sorge um seinen noch gar nicht vorhandenen Ruf gewissenhaft vermeidet, den Namen der Fast-Food-Kette zu nennen, in der sich die Gewalttaten abspielen.
Zahlreiche Stereotypen haben ihren Auftritt
Oder ein Journalist ("Gesendet") recherchiert für einen Artikel über amerikanische Pornofilme in Osteuropa und trifft dort genau auf die Darstellerinnen, deren Videos er sich aus dem Netz heruntergeladen hat. Das ist noch peinlicher als das Paar in "Der Uni-Bezirk", das auf seiner ersten Reise nach New York blind dem digitalen Reiseführer vertraut und dabei alles übersieht, was es mit eigenen Augen zu sehen gäbe.
Joshua Cohen ist kein Autor, der die Leser am roten Faden durch seine bizarren Szenerien führt. Innerhalb einer Erzählung setzt er sie unvorbereitet mal in der einen, mal der anderen Figur ab. Verwirrend ist, dass sich Beobachtungen und Erinnerungsfragmente, teilweise in demselben Tempus, abwechseln.
Es wimmelt von Rück- und Ausblicken, von Doppelpunkten, Gedankenstrichen und ausufernden Klammerbemerkungen, was die Orientierung erheblich erschwert. Auch zahlreiche Stereotypen haben ihren Auftritt: der talentlose Autor, der blasierte Manhattener, der kopflose Lyriker.
Hinreißend komische Passagen
Doch für die Lesemühe, die plakative Figurenzeichnung, wird man mit hinreißend komischen Passagen entschädigt. Wenn der Autor eines blutigen, mit Symbolismen überladenen Machwerks voller Gewaltszenen, SOS-Rufe ins Netz sendet, weil ihn ein Schreibblock plagt, dann helfen am Ende nur die scheinbar einfältigen Fragen seines Vaters: "Warum fährt der einen Ford?", "Was macht er beruflich?". Die bremsen wohltuend den Ablauf des Geschehens - und parodieren das Trash-Genre aufs Schönste.
Auch die mit Abstand beste Geschichte des Bandes, "Der Uni-Bezirk", ist eine fabelhafte Satire, auf Creative-Writing-Workshops, auf glücklose Schreibversuche und auf die Hoffnung, dass sich noch aus jedem erfolglosen Schriftsteller ein passabler Handwerker herausmendeln lässt.
Vor allem diese zwei Geschichten sind auch ein Spaß für Leser, die ohne Handys und das Internet aufgewachsen sind. Denn unterm Strich besehen geht es, bei aller Aufgeregtheit um Medialisierung und Popkultur, um die ganz altmodische Frage, wie Kunst und Leben zusammenhängen, wie Literatur entsteht. Und da ist es ziemlich egal, ob online oder offline.

Joshua Cohen: "Vier neue Nachrichten"
Aus dem Englischenl von Ulrich Blumenbach
Schöffling & Co, Frankfurt / Main 2014
272 Seiten, 19,95 Euro