Kurz und kritisch

Sittengemälde des autokratischen Kreml

Russlands Präsident Wladimir Putin in einem Fernsehinterview
Russlands Präsident Wladimir Putin in einem Fernsehinterview © Imago
Von Martin Steinhage · 28.11.2015
Der positive, der selbstherrliche, der propagandistische Präsident des neuen Russlands in einem autokratischen System: Michail Gorbatschow, Michail Sygar und Peter Pomerantsev porträtieren Wladimir Putin recht unterschiedlich.
Über das neue Russland und das System Putin denkt Michail Gorbatschow in seinem jüngsten, vielleicht letzten großen Werk nach. Es hat den Charakter eines politischen Vermächtnisses. Der inzwischen 84-jährige letzte Präsident der Sowjetunion, der geistige Vater von Perestroika und Glasnost, legt ausführlich Zeugnis ab über sein Tun und Handeln.
Buchcover "Das neue Russland. Der Umbruch und das System Putin" von Michail Gorbatschow
Buchcover "Das neue Russland. Der Umbruch und das System Putin" von Michail Gorbatschow© Quadriga Verlag
Dabei räumt er Fehler und Versäumnisse ein, lässt aber unter dem Strich seine fraglos historische Rolle in einem allzu freundlichen Licht erscheinen. Ermüdend sind zudem langatmige Passagen und Wiederholungen. Im Westen beliebt und in seiner Heimat wenig gelitten, hat "Gorbi" allerdings durchaus Spannendes und Aufschlussreiches über Gegenwart und Zukunft Russlands zu sagen.
Gorbatschow, der sich selbst und Putin lobt
Den heute Verantwortlichen im Kreml gehe es um "ewigen Machterhalt", darum, "ohne jegliche Kontrolle regieren zu können und ihren eigenen materiellen Wohlstand zu sichern". Die russische Führung könnte gar zum Stalinismus zurückkehren.
In krassem Widerspruch dazu steht das Wohlwollen, das er Wladimir Putin entgegenbringt. Obschon er an ihm "autoritäre Züge" erkennt, schreibt er ihm zahlreiche positive Eigenschaften zu - und billigt dessen Politik ausdrücklich.

Das neue Russland". Michail Gorbatschow über den Umbruch und das System Putin
übersetzt von Boris Reitschuster
Quadriga Verlag Köln, 2015
559 Seiten, 25 Euro, auch als e-book erhältlich

Das Endspiel des Wladimir Putin analysiert ein noch recht junger, aber bereits sehr bekannter russischer Journalist. Michail Sygar beschreibt einen Mann, der sich in 15 Jahre an der Spitze Russlands von einem gemäßigten Reformer zu einem selbstherrlichen Autokraten gewandelt hat.
Für diese Entwicklung gebe es zwei Ursachen: Zum einen habe die politische wie wirtschaftliche Verfasstheit seiner Heimat Putin mehr und mehr überzeugt, Russland sei nur mit harter Hand zu führen. Zum andern fühlte und fühlt sich der russische Präsident von den westlichen Spitzenpolitikern nicht ernstgenommen.
Buchcover "Endspiel. Die Metamorphosen des Wladimir Putin" von Michail Sygar
Buchcover "Endspiel. Die Metamorphosen des Wladimir Putin" von Michail Sygar© Verlag Kiepenheuer & Witsch
Seine ausgesteckte Hand sei mehrfach ausgeschlagen worden. Stattdessen habe ihn der Westen wiederholt hintergangen, etwa mit der Nato-Osterweiterung oder der Einflussnahme auf die Geschehnisse in den ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine.
Putin, der von russischer Weltsicht getrieben ist
Michail Sygar zeigt den Präsidenten als einen Getriebenen, dessen Wandlungen einer nachvollziehbaren Logik gehorchen und der Opfer intellektueller Scheuklappen eines gelernten Geheimdienstmanns wurde. So sei die Hoffnung auf Zusammenarbeit mit dem Westen längst der Überzeugung gewichen, Washington, Paris oder London gehe es allein darum, Russland zu schwächen.
Nicht zuletzt weil diese paranoide Weltsicht als ein Erbe der Sowjetzeit weit verbreitet sei, finde Putin so viel Unterstützung im eigenen Land - etwa wenn er, wie mit der Annexion der Krim, nationalistische Reflexe und Großmachtträume bedienen würde.

"Endspiel", ein äußerst lesenswertes Buch von Michail Sygar über die Metamorphosen des Wladimir Putin
aus dem Russischen von Frank Wolf
Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln, 2015
400 Seiten, 16,99 Euro, auch als e-book erhältlich

Peter Pomerantsev, ein Brite mit russischen Wurzeln, beobachtete fast zehn Jahre lang in Diensten Moskauer TV-Sender Land und Leute. Seine Reportagen berichten, wie die Medienlandschaft in der Ära Putin funktioniert und der Kreml die Berichterstattung steuert. Wie ehedem manipuliert die Staatspropaganda ihr Publikum rund um die Uhr, hält es aber anders als früher mit einem Überangebot an seichtester Unterhaltung bei Laune.
Buchcover "Nichts ist wahr und alles ist möglich" von Peter Pomerantsev
Buchcover "Nichts ist wahr und alles ist möglich" von Peter Pomerantsev © Deutsche Verlagsanstalt DVA
Russland, das westliche Werte verachtet
Zugleich zeichnet er ein facettenreiches Sittenbild einer – wie er sagt – "Diktatur mit besonderen Spielregeln", die westliche Werte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit allenfalls simuliere, weil sie diese im Grunde zutiefst verachte.
Unterhaltsam und mit leichter Hand erzählt er von bisweilen absurd anmutenden Episoden mit zwielichtigen Geschäftsleuten und milliardenschweren Oligarchen, mit korrupten Politikern und einflussreichen Kriminellen, aber auch vom täglichen Existenzkampf der einfachen Leute, den Verlierern im modernen Russland.
Putins Russland sei nicht weniger verkommen als die Sowjetunion. Doch bietet das Land heute den Günstlingen des Systems viel mehr Möglichkeiten, sich rücksichtlos zu bereichern. Wer mit den Wölfen im Kreml heult, darf schier unglaubliche Exzesse des Raubtierkapitalismus in vollen Zügen genießen.

"Nichts ist wahr und alles ist möglich". Peter Pomerantsev über Abenteuer in Putins Russland
aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel
Deutsche Verlagsanstalt DVA München, 2015
21,99 Euro, auch als e-book erhältlich

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