Kunst

Hilfeschreie aufs Blatt geschmettert

Bilder des israelischen Künstlers Moshe Gershuni in der Neuen Nationalgalerie in Berlin.
Bilder des israelischen Künstlers Moshe Gershuni in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. © picture alliance / dpa / Stephanie Pilick
Von Simone Reber · 13.09.2014
Moshe Gershuni zählt zu den bedeutendsten lebenden israelischen Künstlern. Die Berliner Neue Nationalgalerie zeigt nun erstmals in Europa sein 40 Jahre umfassendes Werk. Die aufwühlende Schau wirft den Besucher zurück zu den Wurzeln des Nahostkonflikts.
Die blutroten Fruchtstände und purpurnen Blütenblätter der Alpenveilchen entsprießen einer Eruption von Gewalt. Rings um die Cyklamen steht die Welt in Flammen. Hakenkreuz und Davidstern säumen das Inferno. Stellenweise ist die Farbe mit der Faust aufs Blatt geschmettert. In der aufwühlenden Ausstellung "No Father no Mother" in der Berliner Neuen Nationalgalerie katapultiert der israelische Künstler Moshe Gershuni die Betrachter direkt an den Ursprung des aktuellen Nahostkonflikts. In ihrer rohen Unmittelbarkeit überträgt diese zerrissene Malerei emotionale Qual und politischen Zorn. Wegen seiner Parkinsonerkrankung spricht der 78-jährige Künstler sehr langsam, in seinem Denken bleibt er kompromisslos.
"Es waren Hilfeschreie, zuerst im persönlichen Bereich, aber ich hatte die Fähigkeit auf zwei verschiedenen Ebenen zu arbeiten. Meine individuellen Schreie wurden zu Hilferufen der ganzen Nation."
Moshe Gershuni begann als Bildhauer und Wortkünstler. Nach seinem Auftritt bei der Biennale von Venedig 1980 erlebte er eine existenzielle Krise. Er verliebte sich in einen Mann, verließ seine Familie und wandte sich der Malerei zu. Zunächst war die Arbeit als Akt der Seelenreinigung gedacht. Der Künstler legte das Papier auf den Atelierboden, kroch auf allen vieren darüber und drückte dicke Schichten Farbe, Kleister oder Lack mit den Händen auf. Die Finger sind für ihn das Medium der Ankündigung.
Aufgebehren gegen ein verhärtetes Männerbild
Ungewöhnlich für das säkulare Israel der achtziger Jahre integrierte Gershuni Psalmen in seine Farbschlachtfelder. In der Cyklamenserie überlagern sich Autobiografie, sexuelle Anspielungen und die Auseinandersetzung mit der Geschichte. Alpenveilchen symbolisieren in Israel die gefallenen Soldaten des Unabhängigkeitskrieges 1948.
"Ich war zwölf Jahre alt, als der Unabhängigkeitskrieg begann mit der großen Schlacht auf dem Weg nach Jerusalem. Das Alpenveilchen ist in Israel eine Art Nationalblume geworden. Es blüht an der Straße nach Jerusalem zwischen Felsen und Hügeln."
Isaak, die Schrift im Bild, beschwört nicht nur den Namen des Geliebten. Isaak heißt auch der Erzvater, der selbst als Sohn von seinem Vater geopfert werden sollte. In seiner Soldatenserie begehrt Moshe Gershuni gegen das verhärtete Männerbild der Väter auf, in hellen Lackfarben flirtet er mit den Uniformierten.
"Für mich fand die Auseinandersetzung auch auf sexueller Ebene statt. Der Soldat war ein Objekt des Begehrens. Auch im politischen Sinne sind die Bilder voller Anspielungen auf Soldaten, auf Autoritäten, auf das Blut im Körper und das Blut außerhalb des Körpers."
Ein Mahner des Friedens
Konsequent verweigerte sich Moshe Gershuni der aggressiven Politik Israels. 2003 sollte er den höchst dotierten Kunstpreis seines Landes erhalten. Weil er Ariel Sharon für den ersten Krieg gegen Libanon verantwortlich machte, weigerte er sich, dem Premierminister die Hand zu schütteln. Die Auszeichnung ging an einen anderen. Heute, sagt Moshe Gershuni, ist von der Linken in Israel nicht mehr viel übrig.
"Die ganze Gesellschaft hat sich nach rechts gewandt. Ich würde sogar sagen, sie hat sich fast in eine faschistische Gesellschaft verwandelt. Mir ist klar, dass faschistisch ein starkes Wort ist. Aber wir wissen aus der Vergangenheit, wie Faschismus außer Kontrolle geraten kann, wenn man sich dessen nicht bewusst ist."
In der Berliner Neuen Nationalgalerie stellen Hakenkreuze, die in vielen Bildern auftauchen, den Zusammenhang her zwischen Holocaust und Nahostkonflikt. In die Malerei integrierte Psalmen mahnen Frieden ein. Vergebens.
"No Father no Mother" die schönste Serie spricht von gänzlicher Verlorenheit. Sie ist, wie die ganze Ausstellung, nach einem Zitat aus Georg Büchners Woyzeck benannt. Da erzählt die Großmutter von dem einsamen Kind, das allein den Untergang des Universums überlebt. In Moshe Gershunis Bildern ziehen neblige Schlieren über das Blatt, der Horizont kippt ab, die Erde zerfällt, der Mond löst sich auf. Die Raserei von einst hat sich in leere Trauer erschöpft. Das leuchtende Rot weicht fahlem Grau.