Kunst

Bilderflut ist Bildersturm

Von Sebastian Hennig · 28.08.2014
Behämmertes Glotzen statt schauendes Staunen - so fasst der Künstler und Autor Sebastian Hennig unsere heutige Sehkultur zusammen. Für ihn ist klar: Wir müssen das vorurteilsfreie Schauen wieder üben und schätzen lernen.
Was ist ein Bild? Der Philosoph Gottfried Boehm spricht von einem "Phänomen, dass ein Stück mit Farbe beschmierter Fläche Zugang zu unerhörten sinnlichen und geistigen Einsichten eröffnen kann". Und der Kunstschriftsteller Konrad Fiedler hat das Sehen von Kunstwerken, von "Sichtbarkeitsgebilden" als eine aktive Tätigkeit beschrieben.
Nicht das Dargestellte, sondern die Art es zu sehen, bestimmen den Inhalt eines Bildes. Wir werden unserer Vorstellungskraft ausgeliefert, sobald wir die eigenen Augen gebrauchen.
Ein Freund von mir versäumt keine der Kunstausstellungen in der nahegelegenen Landeshauptstadt. Er ist ein Zeitgenosse, der sich für das kulturelle Leben interessiert. Jüngst beim Besuch einer Sonderausstellung mit Gemälden französischer Impressionisten fühlte er sich in seiner Erwartung enttäuscht. Und beeindruckte mich zugleich durch seine Ehrlichkeit.
Auf den ersten Blick nur braune Vierecke
Die originalen Gemälde wirkten auf ihn bei weitem nicht so leuchtend und klar, wie er sie von Abbildungen her in Erinnerung hatte. Die Enttäuschung wäre ihm erspart geblieben, hätte er Geduld gehabt, nur eine Weile gewartet, bis sich die Augen an den Ausstellungsraum gewöhnt, bis sie sich auf Farben, Stimmungen und Szenen des Gemäldes eingestellt haben. Dann wäre durch den Schleier des reprografischen Vorurteils hindurch das wirkliche Bild vor seinen Augen wiedererstanden.
Wer von einem sonnendurchfluteten Platz in einen Saal mit niederländischer Malerei tritt, erkennt zunächst nur braune Vierecke. Der erste Eindruck ist die Dunkelheit, die das Motiv nur schwer erkennen lässt. Der ungeübte Betrachter ist irritiert, zumal wenn sein Kunstsinn von der starren Präzision der Fotografie geprägt ist.
Dabei verdankt auch der Film der Malerei nicht nur viel, sondern alles. Die Aussage des Einzelbildes war dem Regisseur John Ford wichtiger als die Bewegung. Statt "movie" nannte er auch die Bildfolge lieber "picture". Movies dominieren heute eindeutig die Lichtspielhäuser und Fernsehprogramme. Lange Einstellungen sind selten geworden, rasche Schnittfolgen überwiegen.
Nicht leicht, ohne Vorurteil zu sein
Behämmertes Glotzen ist an die Stelle des schauenden Staunens getreten. Unausgesetzt begleiten Overhead- und Filmprojektionen oder Reklamebilder unseren Weg durch Stadt und Landschaft oder den beruflichen und privaten Alltag. Bilderflut aber bedeutet keine Zunahme von Bildlichkeit, sie ist ein Bildersturm, der wegfegt, was bildend sein müsste.
Es gibt heute tatsächlich nichts Schwierigeres, als einfach zu schauen – zu schauen, was zu sehen ist. Ohne Vorurteil sein zu wollen, wird schnell zur ideologischen Behauptung. In Wirklichkeit fordert dieser Anspruch heraus, die eigene Fähigkeit zum Betrachten und Assoziieren zu entwickeln und das Augenscheinliche nicht zu missachten.
Zurück zur Einfalt!
Als man die Höhlen von Altamira nahe der spanischen Stadt Santillana del Mar entdeckte, war es nicht der Forscher, sondern seine fünfjährige Tochter, die auf die prähistorischen Wandmalereien aufmerksam wurde. Das kleine Mädchen entdeckte sie im Wortsinne spielend, während der wissenschaftlich arbeitende Vater darüber hinweggesehen hatte.
Über unserer eigenen Komplexität ist uns die Einfalt abhandengekommen. Ein gelungenes Bild ist schon selbst komplex und braucht nur auf die einfachste Weise angeschaut zu werden. Vor einem Meisterwerk der Malerei stehen wir ohnehin alle als Analphabeten.


Sebastian Hennig, 1972 in Leipzig geboren, studierte er Malerei und Grafik an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Neben der freiberuflichen Tätigkeit als Bildender Künstler publiziert er in Zeitungen und Zeitschriften, vorzugsweise in „Tumult – Vierteljahreszeitschrift für Konsensstörung“, ist in der Förderung des künstlerischen Nachwuchses aktiv und betreibt einen bibliophilen Kleinverlag.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Der Autor Sebastian Hennig© Hans-Ludwig Böhme
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