Kunst aus Geständnissen

"Etwas muss gesagt werden"

Ein Beichtstuhl in der Laurentiuskapelle im Dom in Mainz.
Hier geht es - anders als in Roey Heifetz' Kunstprojekt - um Vergebung: Ein Beichtstuhl in der Laurentiuskapelle im Dom in Mainz. © Beto Ruiz Alonso
Von Sigrid Brinkmann · 24.05.2014
Der israelische Künstler Roey Heifetz versucht sich an einem ganz neuen Verständnis von Beichte. Was passiert, wenn menschliches Scheitern mit den Augen eines Künstlers gesehen wird?
Unauffällig schmiegt sich die evangelisch-lutherische Kirche St. Johannes Evangelist in die Häuserzeile der belebten Auguststraße in Berlin-Mitte. Die Tür steht offen, gedämpfte Stimmen dringen aus dem leeren Kirchenschiff nach außen. Mitten im Raum, der früher einmal über 700 Kirchgängern Platz bot, sitzt Roey Heifetz - umringt von neun überlebensgroßen Zeichnungen, die, an Schnüren aufgehängt, ein Oktagon bilden.
Man schaut in übergroße, von Muskelsträngen zerteilte Gesichter mit bohrenden oder verklärten Blicken, mal ist der Schädel von hellen Sandpartikeln bestäubt, mal die Brust von leuchtend farbigen Pigmenten überzogen wie auf dem Herzstück der Installation. Heifetz:
"Dies ist ein Er oder eine Sie, auf die ich bei Gay Romeo, einem Internet-Chat für Schwule, gestoßen bin. Vor 20 Jahren hatte er sich einer Geschlechtsoperation unterzogen, um eine Frau zu werden, und nur zwei Wochen später hat er diesen Schritt zutiefst bereut. Seit dieser Zeit verlässt sie oder er das Haus nur noch, um Essen zu kaufen. Er macht sich furchtbare Vorwürfe. Nachdem wir länger im Chatroom miteinander geredet hatten, lud er mich zu sich nachhause ein. Ich saß ihm gegenüber, konnte ihn in Ruhe betrachten und ein Foto von ihm machen. Beim Zeichnen im Atelier kreiste ich um die Frage, wie man mit so starken Selbstvorwürfen, mit so übergroßer Scham und dem Verlust der sexuellen Identität leben kann, denn diese ist doch etwas Grundlegendes."
Roey Heifetz verlässt das Achteck für einen Augenblick, denn schon wird am Rand der Ausstellung über eine Hängung seiner Zeichnungen in Dresden verhandelt. Eine Besucherin tritt hinzu und bleibt wie angenagelt vor einer Frauenfigur stehen, deren Unterleib sich in einer kohlschwarzen Wolke verbirgt. Das Bild gefällt ihr.
"Mit ihrem ganzen Körper ihre Geschichte erzählt"
"Wow, das ist sehr interessant, ich habe das Gefühl, dass diese Frau mit ihrem ganzen Körper ihre Geschichte erzählt. Sie steht mit offenen Beinen. Die Knie sind dann auch gleich zwei Figuren, und zwischen den Beinen ist eine große schwarze Fläche, und sie hat einen frechen, provozierenden Blick. Ich kenne euch alle, mit eurem Dreck, mit euren Schönheiten, mit allem, und mir kann keiner was vormachen. Ich kann auch nichts mehr verlieren, das vermittelt sie mir."
Die in der Kirche hängenden Zeichnungen sind nach Gesprächen entstanden, die Roey Heifetz mit bekannten genauso wie mit völlig unbekannten Menschen führte. Er nennt sie "Confessions", also Geständnisse oder Beichten und macht daraus Kunst. Nur: Warum vertrauen fremde Menschen dem 34 Jahre alten Israeli offenbar seelisch stark aufwühlende Erlebnisse an? Heifetz:
"Es ist seltsam, denn einerseits wären alle, die zu mir kommen, in der Lage, zuhause über ihr inneren Regungen zu schreiben. Wenn sie dies auf Facebook tun, bieten sie potentiell immer auch an, sich über die mitgeteilte Empfindung auszutauschen. Aber nein, sie verlangen danach, in diesem Raum in der Nähe des Altars zu sitzen und ihre Gefühle hier mitzuteilen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich mich als Adressaten brauchen. Fest steht für mich aber, dass sie ein Echo suchen. Etwas muss gesagt werden, und das Gesagte hat hier eine andere Präsenz. Es steht gewissermaßen im Raum. Ich war auf keine der Geschichten, die ich hier höre, vorbereitet. Oft ging es um die Väter, die Familien, um Geheimnisse, aber anders als im Beichtgespräch verlangen die hierher Kommenden nicht nach Vergebung. Sie suchen auch nicht unbedingt eine Antwort."
Der Brite Gisbourne unterstützt das Beicht-Projekt
Roey Heifetz hat Malerei an der Bezalel Akademie in Jerusalem studiert und lebt seit 2012, als er ein Residenzstipendium am Künstlerhaus Bethanien erhielt, in Berlin. Der schlichte neoromanische Bau der Kirche in der Auguststraße ist für ihn der perfekte Rahmen für seine Installation "Confessions".
Martin Luther war in seinen frühen Jahren Mönch eines Augustiner-Ordens, und die Confessiones des frühchristlichen Kirchenvaters Augustinus sind für Theologen nach wie vor ein unvergleichlich wichtiges Zeugnis der Bekenntnisliteratur. Der Brite Mark Gisbourne unterstützt das künstlerische Beicht-Projekt von Anfang an. Er hat an der Slade School in London gelehrt und so berühmt gewordene Künstler wie Damien Hirst, Tracey Emin und Sara Lucas unterrichtet. Seit 2004 kuratiert er auch Kunstschauen in Deutschland. Bis zum Alter von 31 Jahren war Gisbourne Franziskanermönch:
"In der Kunst sind Beichten heute ja sehr geläufig. Intimes wird einfach ausgebreitet, oft sehr roh. Man sollte nachdenken über das, was die Leute antreibt, ihr Innerstes preiszugeben. Im 20. Jahrhundert hat der Psychoanalytiker den Beichtvater ersetzt, aber auch in der Kunst wird ständig nach Läuterung gesucht. Das Bekenntnishafte wird zur Form und ist aus der modernen medialen Welt überhaupt nicht mehr wegzudenken."
Roey Heifetz wird zum Spiegel und Interpreten unwillkürlicher Regungen. Der fast doppelt so alte Mark Gisbourne und er sind ein gutes Gespann. Die Weise, wie der ehemalige Mönch noch drei Jahrzente nach seinem Ordensaustritt von der läuternden Kraft der allabendlichen Contritio - der Gruppenbeichte - spricht, hat etwas Gewinnendes. Ohne die klare Aussprache und das Eingestehen von Unrecht sollte kein gläubiger Mensch den Tag beschließen. Und der Unfromme ebenso wenig. Die Installation Confessions ist eine unprätentiöse Einladung zum Gespräch. Der unbekannte, empathische Zeuge Roey Heifetz ist ganz Auge und Ohr.
"Confessions": Ein Künstlerprojekt von Roey Heifetz (8. Mai bis 1. Juni)
Öffnungszeiten: Mi - So, 14 -19 Uhr
Finissage: 31. Mai, 19 Uhr
St. Johannes Evangelist-Kirche, Auguststraße 90, 10117 Berlin