Kundus

Ohne Bundeswehr geht es bergab

ehemaliges Willkommensschild der Bundeswehr in Kundus
Vor einem Jahr zog die Bundeswehr aus Kundus ab. © Jürgen Webermann
Von Jürgen Webermann  · 23.09.2014
Die Region im Norden Afghanistans profitierte lange von der Stationierung der Bundeswehrsoldaten. Straßen und Schulen wurden gebaut. Ein Jahr nach dem Abzug hat sich die Sicherheitslage drastisch verschlechtert. Auch die Wirtschaft liegt am Boden.
Muhammad Shafiq "Safi" ist erst nicht zu sprechen, dann hat er es sich anders überlegt.
"Guten Morgen - Salam aleikum."
Es ist Freitag, der islamische Feiertag, und "Safi" trägt eine weiße Kurta, ein traditionelles Gewand. Das "Guten Morgen" hat Safi in Munster gelernt, er war dort auf der Panzerschule.
Safi führt in seinen Besprechungsraum. Die Farbe an den Wänden bröckelt, die Bürostühle sind kaputt. Das Licht flackert. Safi kommandiert die Spezialpolizei in Kundus. Sein Unterstand befindet sich mitten im ehemaligen Feldlager der Bundeswehr.
"Seit die Deutschen weg sind, waren nur ein paar deutsche Journalisten hier. Aber von der Bundeswehr haben wir seit ihrem Abzug nichts mehr gehört."
Polizeikommandeur "Safi"
Polizeikommandeur "Safi"© Jürgen Webermann
Im "Tal der Tränen"
Das Lager in Kundus wirkt wie eine Geisterstadt im amerikanischen Mittleren Westen. Sand hat sich auf die Wege gelegt, Bäume und Büsche sind verdorrt. Ein Schild prangt am Zaun vor Safis Unterstand, auf deutsch steht darauf: "Tal der Tränen", warum, das weiß auch Safi nicht. Die Baracken, die früher "Dresden" oder "Bad Liebenstein" hießen, sehen verwaist aus. An den Masten vor der ehemaligen Kantine hängt nicht einmal die afghanische Fahne. Kommandeur Safi und seine 260 Männer haben einfach zu viel zu tun, als dass sie sich um die Instandhaltung des ehemaligen Bundeswehr-Lagers kümmern könnten. Sie sind seit Wochen ständig im Einsatz.
"Wir haben Probleme hier. Mit Taliban-Kämpfern aus allen möglichen Gegenden. Aus Pakistan, aus Tschetschenien, arabischen Ländern und Usbekistan. Wir haben Bombenanschläge am Straßenrand. Wann immer die Terroristen es wollen, greifen sie unsere Polizeiposten an."
In der Provinz Kundus herrscht derzeit offener Krieg. Zwei Distrikte sind nach übereinstimmenden Berichten von Anwohnern, lokalen Journalisten und Sicherheitsexperten in der Hand der Taliban. An einigen Tagen rückten die Kämpfer sogar bis an die Stadtgrenze heran. Auch das Feldlager selbst, eine mächtige und von der Bundeswehr gut ausgebaute Festung, drohte schon ins Visier der Taliban zu geraten. So nah waren die Taliban Kundus zuletzt vor 17 Jahren gekommen. Was folgte, war eine mehrjährige Schreckensherrschaft.
Wer zu Rangin Spanta möchte, muss Zeit mitbringen. Spanta residiert im Präsidentenpalast in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Dort hinein zu kommen, dauert an diesem Nachmittag beinahe eine Stunde. An sieben Kontrollpunkten schieben die Soldaten jede Tasche, jeden Stift und jeden Schreibblock durch den Röntgenscanner. Sie tasten den Besucher genau ab. Die Männer haben ihre Maschinenpistolen stets schussbereit. Sie wirken angespannt.
Vor der ehemaligen Bundeswehr-Kantine in Kundus
Vor der ehemaligen Bundeswehr-Kantine in Kundus© Jürgen Webermann
Rangin Dadfar Spanta ist der Nationale Sicherheitsberater Afghanistans, ein enger Vertrauter des langjährigen Präsidenten Hamid Karsai. Spanta hat in Deutschland gelebt, und er mag es, Interviews auf deutsch zu geben. Bei ihm laufen die wichtigsten Informationen über die sogenannte "Fighting Season", also der diesjährigen Kampfsaison in den afghanischen Unruheprovinzen, zusammen. Gekämpft wird stets ab dem Frühjahr, wenn die Bergpässe zugänglich sind und Taliban auf diesen Wegen in die Provinzen einsickern können. In diesem Jahr ist jedoch einiges anders.
"Nein, ich glaube nicht, dass es sich um eine normale Fighting Season handelt. Die Kalkulation ist einerseits, dass die internationalen Truppen zurückgegangen sind, die haben jetzt noch 35.000 Mann, und das sind keine Kampftruppen, die beteiligen sich überhaupt nicht. Und die Taliban denken, sie können die Regierung schwächen und ein paar Provinzen besetzen. Aber die haben es nicht geschafft, bisher eine einzige Provinz dauerhaft zu besetzen. Und wir haben bisher gut verteidigt."
Es sind dennoch Nachrichten wie diese, die Spanta alarmieren: Einige Polizeikommandeure in Kundus meldeten, dass die Taliban viel besser ausgerüstet seien als sie selbst, auch Kommandeur Safi im ehemaligen Bundeswehr-Lager hat sich darüber beschwert. Einfache, lokale Polizisten haben oft nicht mal ein Fernglas, um den Gegner ausfindig machen zu können. Und: In diesem Jahr scheinen deutlich mehr Taliban in Kundus zu kämpfen als jemals zuvor. Diese Männer sind, das gilt als sicher, zumeist aus Pakistan eingesickert. Tatsächlich hatte das Nachbarland seit den 90er-Jahren immer wieder einzelne Taliban-Gruppen finanziell, heimlich mit eigenen Offizieren und mit Waffen unterstützt. In Pakistan tauchen die Taliban immer wieder unter. Spanta glaubt nicht, dass sich daran etwas geändert hat. Zwar kämpft die pakistanische Armee seit Monaten selbst gegen eigene, pakistanische Extremisten. Diejenigen Taliban, die jedoch ausschließlich in Afghanistan aktiv sind, die habe Pakistans Militär unbehelligt gelassen, sagt Spanta.
"Definitiv ich kann Ihnen sagen, die haben die afghanischen Taliban nicht bekämpft, die haben die Führung von Al Kaida, die Kontakt mit pakistanischen Geheimdienst haben, nicht bekämpft, sondern geschont, das ist der Grund, warum wir damit gar nicht zufrieden sind."
Nachts kommen die Taliban
Zurück in Kundus. Die Fahrt in die Provinzhauptstadt führt durch Dörfer, die fest in der Hand von Taliban sind. Tagsüber können die Armee und die Polizisten von Kommandeur Safi die wichtige Verbindungsstraße nach Süden halten. Meist liegen die Ortschaften mit ihren Lehm- oder Ziegelhütten ruhig in der Hitze. Kinder baden im Kundus-Fluss. Alte Männer schauen den Autos auf der Hauptstraße nach. Aber nachts ändert sich die Lage oft abrupt. Dann überrennen die Taliban die Posten der Polizei und der Armee. Wer in die Stadt will, sollte also möglichst tagsüber, möglichst ohne Pausen und möglichst unauffällig durch diese Gegend fahren.
Afghanistan: Fahrt entlang des Kundus-Flusses
Afghanistan: Fahrt entlang des Kundus-Flusses© Jürgen Webermann
Das Firmengelände von Ahmed Swaraj liegt am Stadtrand von Kundus, etwas abseits der Hauptstraße. Gleich hinter der Mauer beginnen die Felder. Hundert Meter entfernt sichern zwei gepanzerte Wagen einen kleinen Armeeposten. In diesem Sommer waren die Taliban bis auf wenige Kilometer an diesen Außenbezirk herangerückt.
Ahmed Swaraj führt durch das kleine Areal. Zwei alte Lieferwagen sehen so aus, als seien sie lange nicht mehr gefahren worden. Stromaggregate und viele Baumaterialien liegen unter dem Vordach.
"Schauen Sie, diese Wagen hier, das Baumaterial, das gehört alles zur Firma. Auch die Diesel-Generatoren, die wir eigentlich draußen auf den Baustellen nutzen. Das steht jetzt alles hier herum. Wir haben keine Aufträge mehr."
Eine Stadt im Niedergang
Vor einem Jahr sah es für Ahmed Swaraj noch ein wenig besser aus. Damals zog die Bundeswehr gerade ab aus Kundus, und Swaraj befürchtete den Niedergang seiner Stadt. Aber damals hatte er immerhin noch Arbeit. Er baute eine Schule. Das Geld kam von den Deutschen. Die Schule ist jetzt fertig. Von den 20 Mitarbeitern, die Ahmed Swaraj noch vor einem Jahr hatte, sind gerade mal vier geblieben, sie gehören zu Ahmeds Familie.
"Was die Bauwirtschaft angeht, liegt das Geschäft am Boden. Tischlereien sind geschlossen. Malereibetriebe auch. Alles, was mit dem Baugeschäft zu tun hat. Das liegt daran, dass die Sicherheitslage hier nicht gut ist."
Die Schule, die er irgendwo hinter der Begrenzungsmauer auf dem Land gebaut hat, kann Ahmed nicht besichtigen. Zu gefährlich, sagt er.
Kundus war früher ein staubiges Nest, erzählen die Männer in Ahmeds Büro. Jetzt gibt es gute Straßen, fließendes Wasser, tausende Kinder gehen zur Schule, es wurde in den mehr als neun Jahren, in denen die Deutschen da waren, viel gebaut. In den besten Jahren, nach 2003, arbeiteten sogar mehr als 50 Menschen für Ahmed Swaraj, das erzählt er nicht ohne Stolz.
Auch Askila Barekzai ist den Deutschen für die Aufbauarbeit dankbar. Askila ist Provinzrätin in Kundus. Sie sagt, die Leute sehnten sich nach Sicherheit - und deshalb sei der Abzug der Bundeswehr ein Problem.
Askila Barekzai, Provinzrätin aus Kundus
Askila Barekzai, Provinzrätin aus Kundus© Jürgen Webermann
Die Deutschen als eine Art Versicherung
"Aber der Abzug der Deutschen kam zu früh. Wir alle brauchen sie hier, die Jungen, die Mitarbeiter der Behörden, besonders unsere Sicherheitskräfte brauchen noch Hilfe. Die Anwesenheit der Deutschen war einfach nur eine Art psychologische Unterstützung für uns, eine Art Versicherung, dass wir nicht alleine sind."
Askila selbst spürt die schwierige Lage besonders, als Politikerin schlägt ihr und ihrem Ehemann manchmal offene Feindschaft entgegen. Ihre Enkel hat sie nach Kabul gebracht. Askila wollte sich lieber nicht in ihrem Haus zum Interview treffen.
"Es ist unsicher geworden bei uns. Jeden Tag gibt es in unserer Provinz Anschläge, Entführungen, Kämpfe, Raubüberfälle, Drohungen gegen viele Bürger. Kundus gehört inzwischen zu den unsichersten Gegenden in Afghanistan."
Motorräder sind in der Stadt seit einiger Zeit verboten, erzählt Askila. Die Taliban haben darauf gezielte Attentate ausgeübt. Sie kennt auch all die Geschichten vom Land, von Dorfbewohnern, die sowohl von Sicherheitskräften als auch den Taliban beschuldigt werden, für die andere Seite zu arbeiten. Viele Menschen auf dem Land können derzeit vielerorts wegen der Kämpfe weder in die Stadt noch auf ihre Felder.
"Ich bin wirklich besorgt. Verwandte berichteten neulich, dass sich einige Taliban sogar in der Stadt versteckt haben. Es geht von Tag zu Tag bergab. Und unsere Sicherheitskräfte können nicht gegenhalten, unsere Polizei ist zu schwach, der Geheimdienst auch, und dann bedrohen sie auch noch die Bürgerinnen und Bürger hier. Wie kann ich da Gutes in der Zukunft erwarten? Was denken Sie als ausländischer Besucher denn über unsere Zukunft?"
Ahmed Swaraj, der Bauunternehmer am Stadtrand, hat inzwischen Besuch bekommen, von Zalmai, einem Apotheker. Zalmai sagt dasselbe wie Ahmed und Askila: Seit die Deutschen weg sind, geht es bergab. Nicht mal für Medikamente würden die Menschen noch Geld ausgeben.
"Wir wissen einfach nicht, was die Zukunft uns Gutes bringen könnte."
Auf die Frage, wie lange die Deutschen denn noch hätten bleiben sollen, hat aber auch Zalmai keine Antwort. Dass acht deutsche Entwicklungshelfer gemeinsam mit mehr als hundert afghanischen Mitarbeitern im Auftrag der Bundesregierung derzeit sechs Projekte in Kundus betreuen, zum Beispiel den Bau von Wasserleitungen und Bildungsprojekte, davon wissen er und der Bauunternehmer Ahmed Swaraj nichts. Ahmed hofft, dass es in Kundus irgendwann mal auch ohne deutsche Hilfe bergauf gehen wird.
"Wissen Sie, wegen der schwierigen Sicherheitslage will keiner in Kundus investieren. Deshalb müssen wir auf eine neue Regierung in Kabul setzen. Vielleicht wird es dann ja endlich besser."
"Ich bin den Deutschen dankbar"
Auf der anderen Seite der Stadt wohnt Zakir Ali Nazary. Zakir Ali ist Ende 40, aber er sieht älter aus. Tiefe Sorgenfalten ziehen sich durch sein Gesicht. Zakir Ali empfängt in einem einfachen Haus, hierher führen enge, staubige Gassen. Zakir Alis Bruder hatte den Weg gewiesen, er hatte sich extra vermummt, weil er nicht mit einem ausländischen Journalisten erkannt werden wollte. Es gibt Tee und Honigmelonen. In Kundus, heißt es, sollen die Melonen besonders gut schmecken.
Zakir Ali Nazary (Mitte), Ghulam Nazary (rechts) und Zakir Alis Sohn
Zakir Ali Nazary (Mitte), Ghulam Nazary (rechts) und Zakir Alis Sohn© Jürgen Webermann
Seit sein Sohn Aliullah im Winter nach Hamburg gereist ist, hat Zakir Ali eine große Sorge weniger. Aliullah hatte für die Bundeswehr gearbeitet, er war danach von Taliban bedroht worden.
"Ich bin immer so glücklich, wenn ich mit ihm über Skype spreche und sehe, dass es ihm gut geht. Das gibt mir Kraft. Und ich bin den Deutschen dankbar."
Ghulam hat sich dazu gesetzt. Er ist Aliullahs Onkel, der jüngere Brüder von Zakir Ali und der Mann, der zuvor den Weg zum Haus der Familie gewiesen hatte. Seit die Taliban wissen, dass sein Neffe Aliullah als Dolmetscher für die Deutschen gearbeitet hat, hat sich auch Ghulams Leben verändert. Das ist ein weiterer Grund, warum er nur noch verhüllt aus dem Haus geht.
"Ich werde auch bedroht. Ich habe als leitender Beamter in der Landwirtschaftsbehörde gearbeitet. Ich habe meine Arbeit aufgegeben. Ich kann mich nicht mehr außerhalb der Stadt aufhalten, das schafft nur Probleme."
Andere Arbeit gibt es aber kaum in Kundus. Ghulam versucht seit Monaten, einen neuen, ungefährlicheren Job zu finden.
"Die Sicherheitslage sorgt dafür, dass viele junge Menschen das Land verlassen. Das macht es hier auch nicht besser. Und andere laufen einfach zu den Taliban über."
Hoffen auf die Zukunft
Ghulam würde auch ausreisen, wenn er denn könnte, aber danach sieht es nicht aus. Ghulam wirkt ratlos und auch etwas verzweifelt. Sein Bruder Zakir Ali will aber nicht schon wieder düsteren Zeiten entgegenblicken wie damals, als die Taliban Kundus regierten und sein Sohn Aliullah mit schwarzem Turban zur Schule gehen musste. Zakir Ali hofft nach wie vor auf bessere Zeiten. Und er denkt trotz der verfahrenen Lage an eine Zukunft mit seinem Aliullah, und zwar in Kundus.
die ehememalige Essensausgabe in der Bundeswehr-Kantine
die ehememalige Essensausgabe in der Bundeswehr-Kantine© Jürgen Webermann
"Er soll erst einmal in Hamburg studieren. Vielleicht wird Afghanistan ja irgendwann auch so sicher sein wie Deutschland. Wir werden Aliullah dann brauchen, mit seinen neuen Kenntnissen. Darauf hoffe ich."
Im Moment zehrt Zakir Ali von den kleinen Freuden, die ihm Aliullah bereitet. Als das Interview beendet ist, fällt ihm eine kleine Geschichte ein, die ihn berührt hat.
"Ach, es war schön neulich, während des Fastenmonats Ramadan. Aliullah fragte seine Mutter per Skype nach einem Rezept für ein afghanisches Gericht, er wollte es zum Fastenbrechen selbst ausprobieren. An dieses Gespräch erinnere ich mich noch heute sehr gerne."
Als er das erzählt, lächelt Zakir Ali, zum ersten Mal an diesem Nachmittag in Kundus. Den Grund für die verschmitzte Freude schreibt Aliullah später in einer E-Mail aus Hamburg. Er wollte Bolani kochen, eine Art gefüllter Pfannkuchen. Das Gericht ist ihm aber mächtig misslungen. Seitdem scherzt die Familie daheim über Aliullah, den angehenden Koch, der ihnen in Kundus so fehlt.
Mehr zum Thema