Kulturgeschichte

Diesseits vom Jenseits

Von Hans-Jörg Modlmayr · 03.04.2014
Bis zum 17. Jahrhundert lebten die Menschen in Erwartung des Jüngsten Gerichts, fixiert auf das Jenseits. Erst dann ging man daran, auch das Leben im Diesseits zu verbessern, mittels sozialer und technischer Neuerungen. Das war die "Geburt der Gegenwart", sagt der Historiker Achim Landwehr.
Die Wertschätzung der Gegenwart ist ein relativ junges Phänomen. Eingezwängt zwischen die heilsgeschichtlich gedeutete Vergangenheit und die vom Schöpfer vorherbestimmte Zukunft fristete die Gegenwart in der Geistesgeschichte Europas bis ins 17. Jahrhundert hinein ein regelrechtes Aschenputteldasein. In seinem neuen Buch "Geburt der Gegenwart - eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert" spürt Achim Landwehr der Frage nach, wie und warum das alte biblische Weltbild mit seiner zeitlichen Abfolge der Weltgeschichte - vom sechstägigen Schöpfungsakt des Universums und seines "Inventars" an - im Laufe des 17. Jahrhunderts löcherig wurde und sich die allgemeine Vorstellung von Zeit und ihrer Bedeutung und Gestaltbarkeit durch die Menschen grundlegend zu wandeln begann.
Das alte Weltbild war alternativlos, so schien es. Es war integraler axiomatischer Bestandteil der über 1.500 Jahre herrschenden christlichen Lehre, die ihre Legitimation aus der Heiligen Schrift herleitete.
Gerade durch die Erneuerungsimpulse der Reformation erfuhr dieses Weltbild eine neue existenziell-apokalyptische Bedeutung. Nach den Berechnungen von Martin Luther stand das Ende der Welt, und damit die Erfüllung der Vorhersagen der Bibel, unmittelbar bevor. Martin Luther bezog sich auf die Weissagungen von Hosea, dass die Existenz der Welt auf eine Gesamtzeit von 6.000 Jahren terminiert sei. Bis zur Verkündigung der Zehn Gebote, so Hosea, bestand die Welt 2.000 Jahre, danach folgten 2.000 Jahre unter dem Göttlichen Gesetz und bis zur Rückkehr des Messiah und dem Jüngsten Gericht standen noch weitere 2.000 Jahre zur Verfügung - eine Zeitspanne, die sich allerdings um etwa 500 Jahre zu verkürzen schien, da Jesus nicht nach vollen drei Tagen, sondern schon nach zweieinhalb Tagen nach der Kreuzigung auferstand.
Faszinierendes Gesamtpuzzle
Luther und seine Mitstreiter waren davon überzeugt, dass das Ende der Welt - und damit das Jüngste Gericht mit seiner Erlösung der Auserwählten - unmittelbar bevor stand. Die Autorität der Bibel als unbezweifelbare Tatsachen beinhaltendes Geschichtsbuch offenbarte, dass sich die Geschichte seit dem Paradies auf einer Abwärtsspirale befand und dass das Geschehen der Zukunft durch Gott vorher bestimmt war. Für eine vom Individuum und der Gesellschaft gestaltbare Gegenwart blieben da so gut wie keine Spielräume.
Vor den Augen seiner Leser fügt Achim Landwehr wie ein behutsam arbeitender Archäologe die Fundstücke seiner akribischen Befragung der weit ausgreifenden Fülle von ganz unterschiedlichen zeitgenössischen Quellen, wie etwa den massenhaft verbreiteten Kalendern, den aus dem Boden sprießenden Zeitungen, Genealogien, Romanen, Konversationslexika und Modejournalen zu einem faszinierenden großen Gesamtpuzzle zusammen.
Sein Gesamtbild der verschiedenen Zeitvorstellungen und Zeitmodelle, die sich im Laufe des 17. Jahrhunderts entwickelten, zeigt, wie die Gegenwart eine immer stärker werdende Wertschätzung erfuhr. Die Kalender, deren Auflagenstärken mit den volkssprachlichen neuen Bibeln, Gebetbüchern und Katechismen Kopf an Kopf lagen, waren ursprünglich vollgepfropft mit medizinisch-astrologisch-astronomischen Anweisungen etwa darüber, wann und wie man sich am besten zur Ader lassen sollte.
Im 17. Jahrhundert mutierten die neuen Kalender zu Organizers der eigenen Zeitplanung. Sie ließen jetzt leere Seiten frei für individuelle Zeitplanungen.
Zeitalter der Revolution
War das Bewusstsein der Menschen zuvor von einer passiv-ängstlichen Einstellung zur Zukunft und dem drohenden Jüngsten Gericht geprägt, so wurde ihre Fixierung auf das Jenseits immer stärker von der Hoffnung auf ein verbesserbares Diesseits abgelöst.
Nachdem gegen Ende des 17. Jahrhunderts sowohl die Geißel der Pest als auch die Türkengefahr zum Stillstand gekommen waren, erhellte sich der Horizont der Zukunft durch Visionen eines hier möglichen Wohlfahrtsstaates mit einer gerechten Verteilung des Reichtums, einem gerechten Steuersystem, einem - von Comenius eindrucksvoll skizzierten - allgemeinen Erziehungssystem, der Gründung von Akademien zur Vertiefung und Verbreitung des Wissens über die Natur und die Gesellschaft, der Gründung von Versicherungen, der Konstruktion von Maschinen und Automaten.
Die Gegenwart wurde entdeckt als Möglichkeit, das einst verlorene Paradies auf Erden wieder herzustellen - eine wesentliche Voraussetzung für das heraufdämmernde Zeitalter der Revolutionen.
Landwehrs Buch erweitert unseren Blick auf die tiefgreifenden Umwälzungen der frühen Neuzeit, es macht bewusst, wie sehr sich das Verhältnis zur Zeit, zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, verändert hat. Allerdings – man braucht Geduld und Zeit, um dieses Buch mit der nötigen Aufmerksamkeit zu lesen.

Achim Landwehr: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit des 17. Jahrhunderts
S. Fischer, Berlin 2014
Gebunden, 445 Seiten, 24,95 Euro
ISBN: 978-3-10-044818-7

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