Kulturfinanzierung

Der Kapitalismus frisst die Klassik

Das Orchester der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar
Welche Bedeutung hat Klassik für eine Gesellschaft? © Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar / Guido Werner
Von Inge Kloepfer · 31.10.2014
Geld hat die klassische Musik in Europa groß gemacht: Erst war es die Kirche, später die öffentliche Hand und private Mäzene, die sie finanzierten. Doch heute ist die Klassik in der Krise. Ausgerechnet der Kapitalismus, der ihr zur Blüte verholfen hat, gefährdet sie jetzt.
Ohne Kapital keine Kunst – Geld war schon immer wichtig für die klassische Musik. Mit ihrem Reichtum haben Kirche und Aristokratie die Musik in Europa zur ersten großen Blüte gebracht. Später waren es Mäzene und wohlhabende Bürger, die ihr ererbtes und erwirtschaftetes Vermögen den Schönen Künsten zur Verfügung stellten.
Inzwischen lebt die Musikszene in vielen Ländern von der öffentlichen Hand. Vor allem aber in den Vereinigten Staaten war es der Kapitalismus, die privat finanzierte Initiative, die im vergangenen Jahrhundert eine großartige, inzwischen aber ziemlich angeschlagene Orchesterlandschaft hervorgebracht.
Unzweifelhaft liegt das Golden Age der Klassik hinter uns. Sie ist in der Krise. Das Publikum altert, Orchester verschwinden – hierzulande leise, in Amerika eher geräuschvoll. Das Geld für die Musik sitzt nicht mehr so locker. Und der Anteil der Menschen, die mehr als einmal im Jahr ein klassisches Konzert besuchen, ist auf wenige Prozent geschrumpft.
In den Bildungssystemen westlicher Gesellschaften spielen ausgerechnet die Künste, die noch immer als unverzichtbarer Bestandteil einer umfassenden humanistischen Erziehung gepriesen werden, kaum noch eine Rolle. Aus der Lebenswirklichkeit des Gros der Bevölkerung ist diese Musik sang- und klanglos verschwunden.
Keine Chance für die Künste
Die ernste Musik, in der große Lebensthemen verhandelt werden, wirkt wie aus der Zeit gefallen. Dabei ist der Stoff aus Liebe und Hass, Krieg und Frieden, Konflikt und Versöhnung, Trauer, Jubel, Verzweiflung oder Einsamkeit heute so aktuell wie früher. Was also ist geschehen?
Es scheint, als fräße der Kapitalismus die wunderbare Musik, die er über Jahre ermöglicht hat. Die ökonomische Obsession, die die Gesellschaften diesseits und jenseits des Atlantiks seit zwei Jahrzehnten erfasst hat, verfehlt ihre Wirkung nicht. Sie gibt den Künsten kaum eine Chance.
Die Obsession liegt in dem Kalkül von Kosten und Nutzen, Aufwand und Ertrag, Investition und Rendite, die sich in tatsächlich alle Lebensbereiche hineingefressen hat. Woran soll sich aber klassische Musik in ihrer nicht stofflichen Art messen lassen? Wie wollte man beziffern, was ästhetische Erfahrungen beim Menschen bewirken? Wer weiß schon, ob die Lösung eines Dilemmas am Arbeitsplatz oder die Beilegung eines privaten Konflikts mit dem Genuss klassischer Musik am Vorabend in der Philharmonie zu tun hat?
Der immaterielle Return eines Konzertbesuchs jenseits reiner Unterhaltung ist nicht in Zahlen zu fassen. Und er ist auch bei jedem einzelnen verschieden. Welchen monetären Mehrwert haben Inspiration, Kreativität, Trost, Freude oder Hoffnung, die diese große Kunst den Menschen beschert?
Klassik von ökonomischer Obsession befreien
Mehr noch: Ernste und mitunter nicht ganz leicht zugängliche Kunst, deren Wirkungsmacht umso größer wird, je mehr man sich auf sie einlässt und über sie lernt, verkauft sich nicht breitflächig – sie verschlingt immer nur Geld. Rein ökonomisch darf man sie deshalb erst gar nicht betrachten.
Und deshalb hat die Klassik nur eine Chance, wieder in das Leben von vielen Menschen zurückzufinden, wenn wir uns zumindest auf diesem Feld von unserer ökonomischer Obsession befreien. Wenn wir bereit sind, erst zu investieren, bevor wir Erfolge garantiert haben wollen. Oder anders: wenn wir dieses fortdauernde Abwägen zwischen Kosten und Nutzen hier endlich einmal sein lassen.
Ohne Geld keine Kunst, die klassische Musik braucht Kapital – für die Musikerziehung, für Konzert- und Opernhäuser und für Orchester. Und sie braucht eine Gesellschaft, die den Mut hat darauf zu vertrauen, dass ein anspruchsvolles Musikleben seine Wirkung großzügig entfaltet. Denn sie hat ja über Jahrhunderte unbestritten Mehrwert geschaffen.
Inge Kloepfer, Jahrgang 1964, studierte Volkswirtschaftslehre und Sinologie. 1992 wurde sie Mitglied der Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seit 2001 schreibt sie für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Bei Hoffmann und Campe erschien 2005 ihr Bestseller über die Verlegerin Friede Springer, für den sie mit dem Preis "Wirtschaftsjournalistin des Jahres 2005" ausgezeichnet wurde, 2008 "Aufstand der Unterschicht – Was auf uns zukommt" und gerade eben "Erwarten Sie Wunder!", das sie mit dem Dirigenten Kent Nagano geschrieben hat. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Berlin.
Inge Klöpfer
Inge Klöpfer© Daniel Biskup
Mehr zum Thema