Kulturelle Differenz

Warum wir nicht über Unterschiede debattieren sollten

Verschleierte Frauen
Kulturelle Differenz? Ein Begriff, der nicht weiterhilft, findet Deniz Utlu. © dpa / picture alliance / Boris Roessler
Von Deniz Utlu · 12.10.2015
Menschen nach Kulturen zu klassifizieren, ist nicht nur nicht zweckmäßig, sondern auch zerstörerisch, davon ist Essayist Deniz Utlu überzeugt. Stattdessen müsse nach dem Zugang zu Ressourcen gefragt werden.
Die Zerrissenheit zwischen den Kulturen ist eine Behauptung. In der letzten Dekade war oft die Rede von "sozialer und kultureller Vielfalt" - von "Zusammenleben". Mir sagt das alles wenig: Wer sind die Vielen? Was bedeutet "Kultur"? Was bedeutet "Kulturen" - theoretisiert und als bedrohlich oder bereichernd empfunden? Um wessen Zusammenleben mit wem geht es? Wer ist zerrissen? Wo zwischen?
Versuche, eine Antwort zu finden, zeigen mir zwei Dinge: Erstens, lässt sich kaum ohne weiteres klären, was "Kultur" bedeutet. Weshalb mühen wir uns dann aber so ab mit Differenzen vermeintlich verschiedener Kulturen? Zweitens, alle Antworten orientieren sich am Menschen im Allgemeinen und nicht an unterschiedlichen Gruppen von Menschen.
Ich behaupte nicht, wir seien alle gleich. Ich stelle lediglich fest, dass der Versuch über den Begriff der "Kultur" oder der "Kulturen" soziale Konflikte zu erfassen, wenig ergiebig ist. Mehr: womöglich ist er verwerflich.
Ein solcher Zugang lockt uns schnell in die berühmte, von Amartya Sen so bezeichnete, "Identitätsfalle". Sen nennt im Wesentlichen zwei Gründe, weshalb unterschiedliche Kulturen als Erklärungsmodell scheitern: "Singularität" und "Schlichtheit".
Mit der "Illusion der Singularität" meint er, dass eine einzige Identitätsschicht singulär über alle anderen gestülpt wird: Etwa die Verkürzung der Identität eines Individuums auf seine Religion. Das Menschliche am Individuum verrinnt. Der Mensch ist nicht mehr Individuum, er wird zu einem Exemplar einer Kategorie. Mit "Schlichtheit" meint die homogene und deshalb verfälschende Sichtweise auf eine Kultur.
Klassifizierung nach Kulturen nicht zweckmäßig
Nehmen wir die Kategorie "Islam". Bilder und Gegenbilder entstehen: Der Islam als Attentat und Burka auf der einen – sehr wohl dominanten – und Gastfreundschaft und Tee auf der anderen Seite. Beides hilft nicht.
Menschen nach Kulturen zu klassifizieren, ist nicht nur nicht zweckmäßig, sondern auch zerstörerisch. So steht beispielsweise in einem Polizeibericht zu den NSU-Morden Folgendes:
"Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturkreis mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist."
Wenn es einen "Kampf der Kulturen" gibt, dann ist klar, welche Kultur diejenige der Mörder ist und welche diejenige der Gerechten.
Wer hat hier und weltweit Zugang zu Ressourcen?
Wäre es nicht ergiebiger über die Differenz im Zugang zu Ressourcen nachzudenken, anstatt die Differenz der Kulturen zu fetischisieren? Dann könnten wir die Fragen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Islam und Christentum den Theologen und Orientalisten überlassen.
Rassistische Morde, ungerechte Bewertungen, die für immer nachhallen von Schülern, Ausschlüsse vom Wohnungsmarkt, all das hat am Ende wenig mit Dreifaltigkeit und Vorhäuten zu tun. Dringlicher sind diese Fragen: Wer hat hier und weltweit Zugang zu Ressourcen, zu Bildung, zu adäquaten Wohnungen, zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung, zu Partizipation an Politik und Vergnügen, und wem werden diese Zugänge verweigert?
Eine solche Verweigerung geschieht gewöhnlich nicht bewusster, sie ergibt sich oft aus einem Zusammenspiel von Kräften, Routinen und Strukturen. Dieses Spiel sollten wir beenden.
Deniz Utlu, geboren in Hannover, studierte Volkswirtschaft in Berlin und Paris, lebt als freier Autor von Prosa, Drama und Lyrik in Berlin. Im Studio/Maxim Gorki Theater veranstaltet er regelmäßig Literaturabende. "Die Ungehaltenen", Graf Verlag 2014, ist sein erster Roman.
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