Künstler in der Ukraine

"Zielscheibe des Staatsterrors"

Mit Schilden, Helmen und Schlagstöcken ausgerüstete Polizisten stehen auf einer Straße in Kiew.
Martialischer Anblick: Sondereinheiten der Polizei in Kiew © Anatoly Maltsev / picture alliance / dpa
Moderation: Matthias Hanselmann · 29.01.2014
Gefesselt, gefoltert, im Wald ausgesetzt: Weil sie sich öffentlich gegen die Regierung Janukowitsch stellen, werden Künstler und Intellektuelle in der Ukraine brutal drangsaliert, sagt der Literaturwissenschaftler Jurko Prochasko.
Matthias Hanselmann: Es ist ein wichtiger Tag heute für die Ukraine: Nach dem Rücktritt der Regierung berät das Parlament über weitere Forderungen der Opposition. Im Zentrum steht eine Amnestie für inhaftierte Demonstranten. Der frühere Präsident der Ukraine Leonid Krawtschuk warnte in einer Rede vor den Abgeordneten vor einem Bürgerkrieg. Die dramatische Situation erfordere verantwortungsvolles Handeln, sagte er. Die Opposition fordert nach wie vor den Rücktritt von Präsident Wiktor Janukowitsch und Neuwahlen. Ich spreche mit Jurko Prochasko, er ist Literaturwissenschaftler am Institut für Literaturforschung der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Lemberg in der West-Ukraine. Guten Tag nach Lemberg!
Jurko Prochasko: Guten Tag aus Lemberg!
Hanselmann: Herr Prochasko, was sind Ihre persönlichen Eindrücke von den Protesten und der Situation in der Ukraine in den vergangenen Wochen und Tagen?
Prochasko: Das ist sehr gemischt, das hat sehr gut angefangen und ich war sehr stolz über Wochen und Monate, über zwei Monate lang. Ich finde diese Proteste nicht nur sehr berechtigt, ich finde sie auch längst fällig. Es ist ein Wunder, dass sie nicht schon früher begonnen haben. Und diese Abkehr im letzten Moment, dieses Sich-Weigern, dieses Abkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen durch den Präsidenten Janukowitsch und die Regierung Asarow war nun nur ein letzter Warnschuss für uns.
Hanselmann: Wir haben es gesagt: Sie sind zurzeit in Lemberg, im Westen der Ukraine. Wenn Sie die Stimmung bei den Menschen hier und dort vergleichen, in Kiew und in Lemberg, was würden Sie sagen: Sind die Unterschiede noch sehr groß in dem, was die Menschen wollen und wie sie protestieren?
Prochasko: Die Lagen sind natürlich sehr unterschiedlich, denn in Lemberg hat das alles begonnen. Noch bevor der große Maidan in Kiew entstanden ist, haben schon einige 100 Studenten, vor allem Studenten, junge Menschen hier in der Nacht gleich nach dem Scheitern des Vilnius-Gipfels in Lemberg protestiert und dann hat sich das auf Kiew übertragen. Aber sehr bald – und eigentlich sofort, und das ist auch die Erfahrung von der Orangenen Revolution 2004, 2005 – ist es klar, dass man Lemberg und Kiew gar nicht vergleichen kann.
In Lemberg gibt es ja nichts zu gewinnen. Hier sind auch die Gremien, auch die Staatsgremien, bis auf die einigen wenigen, die auf der Seite der Regierung stehen, natürlich auf der Seite der Protestierenden, auf der Seite der Demonstranten, auf der Seite der Annäherung mit der Europäischen Union. Obwohl ich auch bei Kiew eine Ausnahme in diesem Fall machen würde. In Kiew denkt man ähnlich und fühlt man ähnlich und in Kiew herrscht auch eine ähnliche Stimmung, nur Kiew ist eben auch die Hauptstadt der Ukraine und der Sitz der Machthaber. Und daher: Wenn man etwas in der Ukraine entscheiden muss, dann muss das in Kiew entschieden werden. Es ist natürlich wichtig, dass alle, die Veränderungen wollen, dass sie auch möglichst nach Kiew gehen.
Hanselmann: Herr Prochasko, der Schriftsteller Jurij Andruchowytsch beklagt in einem offenen Brief, dass in der Ukraine besonders Künstler Opfer der Polizei sind, Schauspieler, Maler, Dichter, dass sie festgenommen und sogar gefoltert würden. Was wissen Sie darüber?
Prochasko: Ja, ich weiß davon leider aus der ganz, ganz unmittelbaren Umgebung, weil es sich herausgestellt hat, dass Jurij Werbizkij, der Geologe und Physiker, auch gefoltert und gefesselt in einem Wald in der Nähe von Kiew vor einigen Tagen tot aufgefunden wurde mit Folterspuren, dass er zu den Freundeskreisen gehört, die in meiner unmittelbaren Umgebung sind. Es ist ja so, ich glaube, es ist jetzt nicht explizit die Jagd auf die Künstler und Maler und Schriftsteller, sondern umgekehrt: Sie sind es, die aktiv sind, die Wort ergreifen, die auch zur Tat greifen im Sinne, dass sie auch demonstrieren gehen, und sie sind es, die publizieren, die zeichnen, die posten, die Artikel schreiben, die erklären, die filmen, die senden. Und deshalb sind sie Zielscheiben dieses unsäglichen Staatsterrors geworden.
Hanselmann: Eine Kollegin von Ihnen hat gesagt, Kunst um der Kunst willen sei im Moment in der Ukraine nicht mehr möglich, nur noch direktes Handeln sei sinnvoll. Sehen Sie das genauso?
Prochasko: Ich sehe es so, dass die Kunst um Kunst willen immer möglich ist, wenn sie möglich ist demjenigen oder derjenigen, der sie schafft, also es ist von Person zu Person sehr unterschiedlich. Wenn jemand dazu fähig ist, jetzt Kunst der Kunst wegen zu machen, ist es keine Straftat und kann nur gebilligt werden. Ich kenne aber sehr, sehr viele Leute, die das nicht tun können im Augenblick.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das „Radiofeuilleton“, wir sprechen mit dem ukrainischen Literaturwissenschaftler Jurko Prochasko, der zurzeit in Lemberg ist. Herr Prochasko, Sie haben einmal eine Zusatzausbildung zum Gruppen-Psychoanalytiker gemacht. Wenn Sie sich die Ukraine, dieses von der Geschichte ja arg gebeutelte Land als eine Gruppe von Patienten vorstellen würden, wie würden Sie sie beschreiben?
Prochasko: Ich würde vor allem mich weigern, sie als Patienten zu bezeichnen. Ich würde sie eher als eine Großgruppe bezeichnen wollen. Das ist nun mal sehr, sehr wichtig. Wir sind ja doch alle in den Gruppen. Und mir ist sehr wichtig, zu sehen, wie die ersten zwei Monate der Proteste, als diese Proteste friedlich waren, überall in der Ukraine, wo sie stattgefunden haben… Sie hatten nichts mit der Massenpsyche zu tun. Das heißt, man konnte sie nicht mit der Massenpsychologie verstehen, sei es nach Broch oder nach Sartre oder nach Freud oder wie auch immer. Sie wiesen alle Charakteristika von Großgruppen auf.
Das heißt, sie waren fähig, Strukturen zu produzieren, und sie waren fähig, große (…) auszuhalten in dem Sinne, dass es keinen klaren, eindeutigen Amtsführer gab. Sie haben ausgeharrt ohne diese deutliche Führerfigur, sie haben ausgeharrt, diese Proteste, ohne ein Ende, einen Abschluss in Sicht zu haben, und sie haben ausgeharrt, ohne typische Phänomene von (…) zu zeigen. Davon war keine Rede. Nur eben dann nach dem 16. Januar, nach diesem unleidigen (…) und nachdem sie nun der letzte Tropfen war, hat sich ein Teil dieser Großgruppe abgespalten und ist zu dem geworden, was zur Gewalt gegriffen hat. Da kann man schon wirklich von einer Dynamik der Masse sprechen.
Hanselmann: Jurko Prochasko, Literaturwissenschaftler am Institut für Literaturforschung der ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Lemberg, haben Sie ganz herzlichen Dank, und an unsere Hörerinnen und Hörer – Entschuldigung für die nicht allzu besonders gute Qualität dieses Telefongespräches.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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