Kritik der christlichen Gewaltgeschichte

10.06.2009
Dass Gewalt im Christentum nicht mit den Hexenverbrennungen aufgehört hat, sondern ein nach wie vor aktuelles Phänomen ist, zeigt der Theologe Herbert Koch in "Der geopferte Jesus und die christliche Gewalt". Koch zeigt, wie die Gewalt im Namen Gottes durch die Deutung des Opfertodes Jesu als gottgewolltes Sühneopfer motiviert war. Dem stellt er das Bild der unendlichen Liebe Gottes entgegen.
Kreuzzüge und Hexenverbrennungen zählen zu den dunkelsten Kapiteln in der Geschichte des Christentums. Wer jedoch meint, mit dem Ende des Mittelalters ende die christliche Gewaltgeschichte, wird durch das Buch "Der geopferte Jesus und die christliche Gewalt" eines Besseren oder leider muss man sagen: Schlechteren belehrt.

Darin führt Herbert Koch etliche Belege an, insbesondere aus dem 20. und 21. Jahrhundert. "Gott mit uns" findet man zum Beispiel auf den Koppeln deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Ferner zitiert Koch aus dem Bericht eines Kriegspfarrers:

"In seinem Opfergang für Führer und Heimat holt sich der katholische Soldat Vorbild, Schwung und Gnadenkraft aus der Höhe im Opfergang des Erlösers auf dem Altare!"

Die Kommunion wird zum Powerriegel für den Kampf. Das Abendmahl gibt Schwung für die Vernichtung des Feindes im Namen Jesu Christi. Das heilige Brot des Altares nährt den Opfergang und gibt der möglichen eigenen Vernichtung einen Sinn.

Zweites Beispiel: Noch in den 1950er bis 70er Jahren werden repressive Erziehungsmaßnahmen in kirchlichen Einrichtungen legitimiert mit Bibelversen wie "Wen der Herr liebt, den züchtigt er" (Sprüche 3,12). Publik werden die skandalösen Gewaltexzesse in diakonischen Einrichtungen der Evangelischen Kirche Deutschlands erst im Jahr 2008 dank der wissenschaftlichen Untersuchung "Endstation Freistatt".

Der Film "Die unbarmherzigen Schwestern" verdeutlicht das katholische Pendant. In irischen Erziehungsheimen der katholischen Magdalenen Schwestern werden Frauen misshandelt, drangsaliert und ausgebeutet. All das geschieht zur moralischen Erbauung im Namen Jesu Christi.

Das sind in Kochs Augen keine einzelnen Verirrungen einer sonst friedliebenden Weltreligion. Nein, Koch legt eine breite Blutspur offen von Gewalt im Namen des christlichen Gottes.

Die breitet sich noch heute aus etwa in den Gefangenenlagern von Abu Ghraib und Guantanamo. Denn die Verletzungen von Menschenwürde und Rechtsstaat in diesen US-Gefangenenlagern werden ermöglicht durch den enormen politischen Einfluss amerikanischer Christen.

80 Millionen evangelikale amerikanische Christen sind sich der Zorngemeinschaft mit Gott bewusst. Sie betreiben heftige Opposition gegen Abtreibungsgesetze und Homosexuellenrechte - und befürworten beim Kampf gegen das Böse auch Mittel der Gewalt.

So machte der ehemalige Justizminister der USA John Ashcroft, politische Speerspitze der Evangelikalen, seinerzeit den Weg frei für Menschenrechtsskandale durch den "Patriot Act". Dieses Gesetz erlaubt die Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen ohne Anklage und Rechtsbeistand auf unbestimmte Zeit.

Der Clou des Buches aber ist: Für den ehemaligen Superintendenten des Kirchenkreises Wolfsburg besteht ein enger Zusammenhang zwischen der christlichen Gewaltgeschichte und der kirchlichen Deutung der Hinrichtung Jesu als gottgewolltes Sühnopfer zum Heil des sündigen Menschen. Anders gewendet: Christlich motivierte und gerechtfertigte Gewalt, so Kochs These, ist Folge der zentralen kirchlichen Lehrdeutung der gewaltsamen Hinrichtung Jesu als Heilsereignis.

Diese Lehrtradition sieht den Menschen vorwiegend als Sünder. Sünde ist Abkehr von Gott. Sie ist eine Beleidigung Gottes. Daher zürnt Gott und droht mit Strafen. Dieses Gottesbild verbreitet Angst und Schrecken unter den Gläubigen. Denn Gott ist allmächtig. Er entscheidet über ewiges Leben und ewige Verdammnis.

Wer Gott beleidigt, muss Sühne leisten. Die Sünden der Menschen wiegen schwer, und Gott ist unendlich beleidigt. Vollkommene Sühne kann daher nur der Gottmensch Jesus Christus leisten. Nur durch den blutigen Tod seines Sohnes erlangt Gott-Vater volle Genugtuung.

Dieses Gottesbild ist nicht das Gottesbild der Bibel, der Predigt Jesu. Es wird aber dennoch zum Vorbild für die "Kinder Gottes". Denn die folgen dem Vorbild des Vater-Gottes, der Blutzoll fordert.

So gerät die unbedingte Liebe Gottes aus dem Blick. So wird etwa eine tragfähige Brücke möglich zwischen Christentum und Krieg. Dann wird der Zorn Gottes zum Zorn der Krieger für eine scheinbar gerechte Sache. Und das blutige Opfer Jesu Christi wird zum Vorbild der Soldaten. Sie sterben den Helden und Opfertod für Volk und Vaterland. Die Zivilbevölkerung hingegen orientiert sich an der Demut und am Leiden Jesu.

Im letzten Viertel seines Buches zeigt Koch Alternativen auf zum desaströsen Gottes- und Menschenbild der kritisierten kirchlichen Tradition. Dazu rückt der protestantische Theologe das Evangelium Jesu in den Vordergrund. Und damit kommt die Lehre des Jesus von Nazareth in den Blick. Er predigt nämlich den strafenden und Opfer fordernden Gott nicht.

Koch zufolge muss die Lehre Jesu in den Mittelpunkt kirchlicher Praxis gerückt werden statt der Lehre über Jesus Christus. Dann kommt die unendliche Vertrauenswürdigkeit Gottes wieder stärker zum Vorschein. Dann gewinnt der gütige Gott Jesu praktische Relevanz.

Den bringt das berühmte "Gleichnis vom verlorenen Sohn" pointiert zur Darstellung, besser: das "Gleichnis von der Liebe des Vaters". Denn es handelt vom bedingungslos liebenden Gott als Vorbild einer ebenso bedingungslosen Geschwisterlichkeit.

Solch akzentuierte Theologie und Anthropologie erweckt Vertrauen, ermöglicht Solidarität und befreit von Angst. Nur von einem angstfreien Christentum, so Koch abschließend, "ist zu erwarten, dass es mit seiner Gewaltgeschichte tatsächlich an ein Ende kommt."

Besprochen von Thomas Kroll

Herbert Koch: Der geopferte Jesus und die christliche Gewalt
Patmos Verlag, Düsseldorf 2009
238 Seiten, 16,90 Euro.