Bücherretterin Ursula Hartwieg

"Materie erhält sich nicht von selbst"

32:43 Minuten
Ursula Hartwieg posiert für ein Pressefoto.
Ursula Hartwieg ist Leiterin der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts in Berlin. © Staatsbibliothek zu Berlin / Hagen Immel
Moderation: Marco Schreyl · 06.07.2021
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Mehr als die Hälfte unserer alten Schriften ist bedroht – Säurefraß und falsche Lagerung gefährden die Bestände. Ursula Hartwieg koordiniert seit zehn Jahren die Erhaltung historischer Originale. Schon viele konnte sie vor dem Verfall bewahren.
Es klinge ja immer so, als wäre sie selber Restauratorin, sagt Ursula Hartwieg. "Aber das bin ich gar nicht – auch wenn ich mich um die Erhaltung von Büchern kümmere."
Ihren Job nennt sie "ein Fördergeschäft": Sie koordiniert die Vergabe von Geldern, die aus verschiedenen Förderprogrammen von Bund und Ländern in Rettungsprojekte für alte Schriften fließen.
Dringend notwendige Gelder, sagt Ursula Hartwieg: "Materie zerfällt. Materie erhält sich nicht von selbst. Da müssen wir was machen. Mehr als die Hälfte dessen, was in den Regalen steht, neun Millionen Bände, ist gefährdet."
Seit zehn Jahren leitet sie die Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts, kurz KEK. Zu den gefährdeten Schriften gehören jahrhundertealte Chorbücher, Autografen von Musikern, historische Pergamente und wertvolle Buchbestände aus Archiven und Bibliotheken.

Die Katastrophe von Köln

Die Forderung, etwas zur Sicherung der alten Schriften in Deutschland zu tun, gab es schon lange. Doch die Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts wurde erst nach einer Katastrophe gegründet.
2009 stürzte das Kölner Stadtarchiv ein, dabei wurden viele Archivalien vernichtet oder zu sogenannten "Kölnflocken" pulverisiert. Ohne dieses Unglück, ist sich Ursula Hartwieg sicher, würde es die KEK heute nicht geben.
"Man hat dabei eben gesehen, wie durch einen Fingerschnips ganz viel verloren gehen kann – und zu großen Teilen unwiederbringlich verloren gehen kann. Das war der Anstoß zu sagen: Wir wollen nicht immer nur reaktiv sein, wir müssen präventiv unterwegs sein – wir brauchen so etwas wie eine Koordinierungsstelle", erzählt sie.
Schon vor Köln hatten große Unglücksfälle die Öffentlichkeit aufhorchen lassen: 2004 brannte die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, 2002 vernichtete das Elbhochwasser viele wertvolle papierne Originale. Auch, weil sie nicht fachgerecht gelagert waren.

Ein Pferd aus Pappmaschee

Aus ganz Deutschland können sich Archive und Bibliotheken an die Koordinierungsstelle wenden und Gelder für die Restaurierung ihrer alten Bestände beantragen. "Zu meinem Job gehört viel Telefonarbeit", sagt Ursula Hartwieg, "denn wir beraten die Leute vorab."
Zum schriftlichen Kulturgut zähle "alles, was aus Papier ist" – in erster Linie historische Buchbestände, aber auch Objekte, die einem nicht gleich einfielen. Die KEK hat schon ein zerbröselndes Puzzle vor dem Zerfall gerettet. Oder ein zerlegbares Pferdemodell aus dem 19. Jahrhundert.
"Ein Pappmaschee-Pferd in Naturgröße", erzählt Ursula Hartwieg. "Wo man vielleicht denkt, wieso denn jetzt ein Pferd? Aber wenn man sich dieses Pferd – es ist aus 150 Einzelteilen zusammengesetzt – genauer anguckt, ist jeder Körperteil mit lateinischer Schrift etikettiert, zu Lehrzwecken. Und insofern ist auch das schriftliches Kulturgut."
Seit ihrer Gründung hat die KEK 15,6 Millionen Euro an bundesweit 740 Projekte zur Rettung von Schriftgut weitergeleitet. Dabei gilt: Gerettet wird nur, was später auch alle nutzen dürfen.
Es kann sich also niemand seine Privatsammlung auf Steuerkosten restaurieren lassen, erklärt Ursula Hartwieg: "Jede Einrichtung muss die restaurierten Bestände der Allgemeinheit zugänglich machen."

"Säure ist eine tickende Zeitbombe"

Bei Restaurierung und Konservierung alter Bestände ist handwerkliches Know-how gefragt, aber auch Hightech-Verfahren kommen zum Einsatz. Denn große Mengen von Büchern sind von einem Verfallsproblem betroffen, das ihren schleichenden Tod bedeutet – wenn nichts dagegen unternommen wird.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die meisten Bücher auf säurehaltigem Papier gedruckt, sagt Ursula Hartwieg: "Mit der Säure ist eine tickende Zeitbombe in das Material selbst eingebaut, was ab dem ersten Tag der Produktion anfängt loszutickern."
Säurefraß. Das Papier wird mit den Jahren braun und brüchig – und zerfällt. Viele Buchbestände werden deshalb mit dem modernen Verfahren der "Massen-Entsäuerung" gesichert. Durch Entsäuerung wurde auch der Ausdruck der ersten E-Mail Deutschlands gerettet.
"Die ging damals von den USA nach Deutschland", erzählt Ursula Hartwieg. "Es ist verrückt: Die Mail als solche existiert gar nicht mehr. Die ist weg, nirgendwo mehr abrufbar. Daran ist die Flüchtigkeit von digitalen Objekten doch sehr schön zu sehen."

Ehrfurcht vor dem "Objekt Buch"

Lange hat Ursula Hartwieg überlegt, ob sie eine Karriere als Musikerin anstreben sollte. Doch die Liebe zu den Büchern war letztlich stärker und liegt ihr auch in den Genen. Ihre Mutter war Buchbinderin, die Kinder der Familie wuchsen umgeben von Büchern auf.
Schon als kleines Mädchen spürte Ursula Hartwieg Ehrfurcht vor dem "Objekt Buch". "Ich blätterte die Seiten immer nur ganz vorsichtig um. Und hätte niemals ein Buch 'aufs Gesicht' gelegt", erzählt sie.
Auch ihr Großvater, sagt Ursula Hartwieg, war prägend für ihren späteren Umgang mit Büchern. Er war Physiker und ein großer Freund von Literatur und Lyrik.
"Wenn er nicht arbeitete, saß er im Ohrensessel und las. Wir haben ihn 'Opa-Lese' genannt. Die Bücher von ihm hatten Zettel, auf die hat er bei der Lektüre Gedanken und Zitate geschrieben. Das heißt, ich habe das Buch als einen Ort des Geschehens kennengelernt."

Der Wert der originalen Quellen

Warum dürfen Bücher nicht sterben? Warum müssen mit viel Steuergeld alte Originale erhalten werden – würde es nicht reichen, sie zu digitalisieren? Kritische Fragen, mit denen die Leiterin der KEK immer wieder konfrontiert wird. Digitalisiert werde viel, sagt sie, auch um Buchbestände weltweit der Forschung zur Verfügung zu stellen.
Doch am Originalerhalt von historischem Schriftgut führe kein Weg vorbei: "Es ist unser kulturelles Gedächtnis! Wenn mit einem Schnips mal alle Computer abgestellt werden sollten – durch einen Cyberangriff etwa – dann ist das, was auf Papier ist, noch da."
Außerdem, betont Ursula Hartwieg, sei es wichtig, unser schriftliches Kulturgut für die nachfolgenden Generationen zu bewahren. "Wir müssen einfach immer wieder in die Quellen kucken, um die Vergangenheit zu verstehen."
(tif)
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