Krisentreffen zu Nigeria

Der falsche Terrorkampf des Westens

Von Ute Welty · 17.05.2014
In Paris wird heute zur Lage im Norden Nigerias beraten, wo die Terrorgruppe Boko Haram ihr Unwesen treibt. Es sei "eine ganz große Niederlage", dass der Westen so spät und falsch reagiert, sagt der Afrika-Experte Robert Kappel.
Ute Welty: Die Welt nimmt Anteil am Schicksal der mehr als 200 entführten Mädchen in Nigeria, die Welt und die Politik. In Paris treffen sich Vertreter Nigerias, Benins, Kameruns mit denen von EU und USA. Eingeladen hat dazu der französische Präsident Hollande, und es wird auch darum gehen, wie man überhaupt den Entführern, den Islamisten von Boko Haram, entgegentreten will. Vielleicht sollten die Staats- und Regierungschefs vor einem solchen Treffen Expertise einholen, zum Beispiel die von Robert Kappel vom Hamburger GIGA Institut für Afrika-Studien. Guten Morgen!
Robert Kappel: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Sitzen da in Paris die Richtigen zusammen, um wirksame Maßnahmen gegen die nigerianischen Taliban, gegen Boko Haram zu beschließen, und von Durchführen ist ja da noch lange nicht die Rede?
Kappel: Na ja, es ist eine Initiative des französischen Präsidenten, der sieht, dass im Sahelbereich viel Unmut entstanden ist, der Terrorismus sich ausbreitet und man jetzt irgendwie die Notbremse zieht. Ob die richtigen Partner dort sind, möchte ich bezweifeln. Es ist natürlich gut, dass diese Initiative stattfindet, es müsste allerdings auch die Afrikanische Union dabei sein, die die afrikanischen Staaten repräsentiert. Es ist ja nicht nur Kamerun und Benin irgendwie betroffen, sondern es sind auch andere Staaten betroffen, und eigentlich brauchte es eine afrikanische Initiative. Dazu hätte man auch die Afrikanische Union und einige andere Länder auch einladen müssen, also von Senegal bis Mauretanien, bis Tschad, Niger und so weiter, also Länder, die von diesem Terrorismus auch stark betroffen sind.
Welty: Es ist also eine wichtige Frage, wer sich da trifft, aber es ist auch eine andere wichtige Frage, was beschlossen wird. Was wären denn wirksame Gegenmaßnahmen?
"Boko Haram hat ziemlich viel Freiraum"
Kappel: Na ja, wir wissen noch nicht, was sie beschließen werden. Ich glaube, sie werden sich ein bisschen abstimmen, wie man vorgehen kann. Die Amerikaner haben ja auch schon 30 Militärberater nach Nigeria geschickt, das wird natürlich nicht ausreichen – wie sollen 30 amerikanische Geheimdienstleute Boko Haram finden? –, denn diese Organisation ist nicht einfach greifbar. Man kann den Führer versuchen zu finden und die entführten Mädchen, aber das reicht ja nicht aus, denn diese Organisation ist sehr dezentral aufgestellt, sie agiert überall, in kleinen Städten bis großen Städten. Sie agiert in einem Gebiet, was verwaltungsmäßig institutionell nicht gut aufgestellt ist, dort gibt es eigentlich kaum funktionierende Institutionen, also Boko Haram hat ziemlich viel Freiraum.
Welty: Ist das auch der Grund dafür, dass erst eben diese Entführung geschehen musste, bevor alle begriffen haben, wie gefährlich Boko Haram ist?
Kappel: Na ja, das ist eigentlich eine ganz große Niederlage, so kann man sagen, dass der Westen und auch die afrikanischen Staaten so spät reagieren und so falsch auch reagieren. 2009 hat man schon versucht, die damalige Organisation Boko Haram zu zerschlagen. Man hat den Führer dann erschossen, aber Boko Haram ist seitdem viel stärker geworden, und man hat nichts getan, um mit dieser Organisation ins Gespräch zu kommen. Man hat nichts getan, um die vielen jugendlichen Arbeitslosen, die in dieser Organisation sich wiederfinden, irgendeine Perspektive zu bieten, also man hat eigentlich alles falsch gemacht seitdem.
Und die nigerianische Regierung hat versucht, durch Hauruckaktionen, also Militäreinsatz, Polizeieinsatz, erst schießen und dann sprechen, gehandelt, also da hat es sehr viel Unmut gegeben. Und im Übrigen gibt es auch keinerlei Vertrauen in den nigerianischen Staat im Norden Nigerias. Also wenn man jetzt zusammensitzt, müsste man sich mit diesen Fragen beschäftigen, und so viel ich weiß, wird man das nicht tun, weil man denkt, man kann eine Terrororganisation durch ganz konventionelle Maßnahmen beseitigen oder deren Vormarsch eindämmen. Ich glaube daran gar nicht.
Welty: Frankreich sieht sich als ehemalige Kolonialmacht ja immer sehr in der Pflicht, was Westafrika angeht – wie und wo muss sich Deutschland da positionieren?
"Der Bevölkerung werden keine Perspektiven im Norden geboten"
Kappel: Ja, ganz kurz zu Frankreich: Frankreich ist da ja die dominante Macht im ganzen Sahelgebiet, hat allerdings auch sehr wenig getan, um die wirtschaftliche Entwicklung in diesem Gebiet zu fördern. Man hat dort ein paar Rohstoffvorkommen und man kümmert sich um Polizei und Militär, aber der Bevölkerung werden eigentlich keine Perspektiven im Norden geboten. Im Gegenteil, es ist zu einer Deindustrialisierung im ganzen Sahelbereich in den letzten Jahren gekommen, und die Landwirtschaft liegt danieder, also keine großen Perspektiven für die Menschen, die im Übrigen ein Einkommen haben, was so hoch ist wie 1960.
Deutschland hat überhaupt keine Rolle in diesen ganzen Konflikten, hat sich bislang dort wenig aufgestellt. Man hat jetzt 100 Millionen Euro für die Entwicklung der Zentralafrikanischen Republik gegeben, das reicht bei Weitem nicht aus. Man braucht eigentlich ein europäisches Konzept, was ganz stark abgestimmt ist mit afrikanischen Staaten und auch der Afrikanischen Union.
Welty: Aber Deutschland muss ein Interesse haben, denn Deutschland exportiert nach Nigeria zum Beispiel für fast 90 Milliarden Dollar.
Kappel: Ja, Deutschland müsste ein sehr großes Interesse haben, aber man hält sich politisch sehr stark zurück, weil man weiß, wie schwierig es ist und wie schwierig es ist, auch mit Frankreich in Afrika zusammenzuarbeiten, weil Frankreich sich da eigentlich die Zügel nicht aus der Hand nehmen lassen möchte. Also Deutschland müsste eigentlich eine proaktivere europäische Politik gegenüber dem Sahel, gegenüber Nigeria verfolgen, muss auch ein großes Interesse an Stabilität und einigermaßen friedlichen Verhältnissen haben, hat dafür allerdings sehr wenig getan, auch was Nigeria betrifft. Gut, wir sind ein Handelsweltmeister auch mit Nigeria, aber Kooperation in dem Sinne mit Nigeria gibt es ja nicht. Also das ist auf sehr niedrigem Niveau, und hier gibt es jetzt die Notwendigkeit, dass Deutschland sich dort auch einbringt.
Bundesregierung "hält sich politisch sehr stark zurück"
Welty: Jetzt hat sich der religionspolitische Sprecher der Unionsfraktion geäußert, der da heißt Franz Josef Jung, in einem früheren Leben war er mal Verteidigungsminister und trat sehr dafür ein, die deutsche Rohstoffversorgung auch mit militärischen Mitteln sichern zu dürfen. Wie passt das zusammen, also dieses Wirtschaftsinteresse und der angebliche Kampf um Religionsfreiheit, also der gute Wille?
Kappel: Ach, das sind so Sprüche, die eigentlich mit der Realität in Nigeria und in Westafrika sehr wenig zu tun haben. Ja, wir sind an Rohstoffen interessiert, da muss man Rohstoffpartnerschaften machen. Was die religiöse Freiheit und so weiter betrifft, das ist ein sehr komplexes Geschehen dort in Nigeria. Bei diesem Konflikt handelt es sich ja eigentlich nicht um einen religiösen Konflikt, sondern um einen politisch instrumentalisierten Konflikt. Also die Eliten des Nordens in Nigeria instrumentalisieren teilweise Boko Haram, um mehr Gelder für Sicherheit zu bekommen, zum Aufbau des Militärs, und es gibt auch die These – und ich stimme ein bisschen dieser These zu –, wonach das Militär in Nigeria wieder eine größere Rolle spielen möchte. Also wir haben hier eine sehr komplexe Lage, die man nicht mit militärischen Mitteln bekämpfen kann. Man muss viel mehr tun. Man muss für die Entwicklung des Nordens etwas tun, man muss dafür sorgen, dass das Vertrauen in die nigerianische Regierung wieder stärker wird, das heißt, man muss auch die nigerianische Regierung davon überzeugen, dass es eine Verantwortung für Entwicklung im Norden des Landes hat und nicht eine Verantwortung nur für den Süden des Landes.
Welty: Robert Kappel vom Hamburger GIGA Institut für Afrika-Studien, ich danke sehr für dieses "Ortszeit"-Interview!
Kappel: Auf Wiedersehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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