Krisen-Gipfel der EU

"Europa muss immer in Bewegung bleiben"

Ungewisse Zukunft Griechenlands: nachdenkliche Manager Figuren stehen vor griechischer Flagge und griechischem Euro mit Schriftzug Grexit
Wäre der Grexit eine Katastrophe für die EU? Der Finanzmarktexperte Friedrich Heinemann meint: nein. © imago
Friedrich Heinemann im Gespräch mit Dieter Kassel · 19.03.2015
Krisen seien immer auch ein Motor für Reformen und ein Moment der Entscheidung, sagt der Finanzexperte Friedrich Heinemann. Deshalb brauche Grexit die EU auch nicht zu schrecken. Wie ein Fahrrad müsse Europa immer in Bewegung bleiben und "braucht neue Projekte, um nicht umzufallen".
Nach Meinung des Finanzmarktexperten Friedrich Heinemann kann Europa aus der aktuellen Krise gestärkt hervorgehen: Die Politik müsse nur die richtigen Themen setzen und Impulse für Veränderungen geben. Vor dem Hintergrund des heute beginnenden EU-Gipfels sagte der Wissenschaftler des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung im Deutschlandradio Kultur:
"Wir haben eines aus der europäischen Geschichte gelernt: Am Anfang von größeren Reformen stand immer ein Krisenmoment." Auch die Gründung der Europäischen Gemeinschaft sei ja seinerzeit eine Reaktion auf "die Katastrophen des 20. Jahrhunderts" gewesen. Ein Beispiel sei das Thema Energie: Um sich unter anderem unabhängiger von Russlands Erdgaslieferungen zu machen, sollten die Länder der EU über einen einheitlichen Energiemarkt nachdenken.
Zustimmung der EU-Bürger auf dem Tiefpunkt
Die Zustimmung für die EU sei in der Bevölkerung gesunken – das sei auch aktuell wieder an den Protesten anlässlich der Eröffnung des neuen EZB-Gebäudes in Frankfurt zu erkennen gewesen, sagte Heinemann. Die Politik müsse nun dringend neue Akzente setzen und neue Projekte anschieben: "Europa muss, wie ein Fahrrad, immer in Bewegung bleiben und braucht neue Projekte, um nicht umzufallen." Und die Frage einer europäischen Energie-Union könne ein gutes Thema dafür sein – es sei Aufgabe der Politik, gegenüber der Bevölkerung den konkreten Nutzen dieser Frage herauszuarbeiten.
Heinemann sagte weiter, der Grexit – der mögliche Austritt Griechenlands aus der Eurozone – sei aus seiner Sicht keine Katastrophe: Es gebe zwar kaum eine Reform ohne Krise, jedoch führe nicht in jedem Land eine Krise auch automatisch zur Reform. Wenn die Voraussetzungen in Griechenland für den Verbleib in der Eurozone nicht mehr erfüllt sein, müsse es eben auch mal eine Entscheidung dagegen geben.

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: In Brüssel beginnt heute Nachmittag ein EU-Gipfel, bei dem neben der geplanten Energieunion wieder zwei große Krisenthemen auf der Tagesordnung stehen, Griechenland und die Ukraine. Und angesichts höchst unterschiedlicher Bewertungen beider Krisen und möglicher Lösungen in den Mitgliedsländern und angesichts der Proteste von EU-Bürgern, die – deutlicher konnte das nicht mehr werden als gestern in Frankfurt – zumindest in Teilen doch sehr unzufrieden sind mit der EU-Politik, angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, ob die EU das noch hinkriegt, ob aus dem Streit noch irgendwas erwachsen kann, wie überhaupt ihre Zukunft aussieht. Diese Frage wollen wir Friedrich Heinemann stellen, er leitet den Forschungsbereich "Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft" am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim und er ist außerplanmäßiger Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg. Schönen guten Morgen, Herr Heinemann!
Friedrich Heinemann: Guten Morgen!
Kassel: Werden die Krisen in der EU zu mehr Zusammenarbeit führen, oder werden sie sie vielleicht spalten?
Heinemann: Wir haben eins aus der Geschichte der EU gelernt, am Anfang von größeren Reformen stand immer ein Krisenmoment. Das begann ja eigentlich schon, als die europäischen Gemeinschaften gegründet wurden. Die wurden gegründet als Reaktion auf die großen Krisen, Katastrophen des 20. Jahrhunderts, nämlich die Kriege. Und daran sieht man, oftmals hat eine Krise zu Veränderung geführt, das hat man auch später in der Geschichte der Europäischen Union weiterhin gesehen, etwa diese ganze Binnenmarktinitiative damals, Ende der 80er, Anfang der 90er war eine Reaktion auf das Gefühl der Eurosklerose, Europa kommt nicht mehr vom Fleck, Europa fällt zurück, Europa ist in einer Krise. Also, ich denke, oft kann aus Krisen doch eine positive Veränderung erwachsen.
Gedanken über einen einheitlichen Energiemarkt
Kassel: Haben wir nicht sogar schon so ein Beispiel auf der Agenda dieses Gipfels, die Energieunion nämlich?
Heinemann: Ja, das stimmt voll und ganz. Also, warum macht Europa sich derzeit so viel Gedanken über einen einheitlichen Energiemarkt? Das sind zum Beispiel die Erfahrungen der Gasversorgungskrise vor wenigen Jahren, als viele EU-Länder aufgrund russischer Lieferstopps abgekoppelt waren, die Sorge, dass sich das wiederholen konnte jetzt, ebenso auch immer noch eine Reaktion auf Fukushima und das Umdenken in Sachen Kernenergien in einigen wichtigen EU-Staaten. Und da sagt man eben: Wir können das Problem eben auch dadurch lösen, dass wir einen Energiemarkt europäisch gestalten, dass wir etwa die Stromnetze besser verbinden, um auch unterschiedliche Versorgungssituationen ausgleichen zu können. Also, ein schönes Beispiel dafür, dass Krisen eigentlich auch zu mehr Europa führen.
Kassel: Aber auch ein schönes Beispiel dafür, dass man sich über nichts so einigen kann. Denn auch die Energieunion sehen ja die Mitgliedsländer völlig unterschiedlich: Die einen sehen es mehr oder weniger nur als Einkaufsgemeinschaft, mit der man vielleicht die Preise drücken kann, und die anderen wünschen sich vielleicht ein viel größeres Konzept?
Heinemann: Ja, es gibt immer diese unterschiedlichen nationalen Interessenlagen, das war auch in der Vergangenheit bei allen wichtigen Projekten so. Und natürlich setzt sich am Ende weder der Minimalist noch der Maximalist durch, sondern es gibt einen signifikanten Schritt nach vorne, der irgendwo in der Mitte liegt.
Kassel: Nun haben Sie schon gesagt, dass große Krisen vor allem, nicht zuletzt auch die schrecklichen Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Grund waren, warum es die EU überhaupt gibt und warum sie so ist, wie sie ist. Aber sind nicht vielleicht manche in der EU, Bürger, Politiker, ganze Staaten bequem geworden? Wir hatten jetzt 70 Jahre keinen Krieg mehr in Mittel- und Westeuropa. Ich habe manchmal das Gefühl, manche denken, na ja, so dringend brauchen wir die EU auch nicht mehr.
Heinemann: Ja, das stimmt natürlich. Die Bequemlichkeit ist vielleicht sogar in Deutschland besonders groß, weil wir momentan das Gefühl haben, ja, uns geht es doch wirklich prima, wir sind ökonomisch ganz stark. Das erklärt für mich auch, dass man etwa bei so Themen wie Freihandel mit den USA, dieses Reizwort TTIP, so bequem geworden ist und sagt, wozu brauchen wir so was eigentlich? Aber schauen wir nach Südeuropa und in die Länder der Euro-Krise, dann stellt man fest: Von Bequemlichkeit ist da natürlich überhaupt keine Spur mehr, sondern hier hat natürlich die Krise oftmals sehr viel Veränderung ausgelöst, sie hat auch in Europa Veränderung ausgelöst. Einfach nur zwei Stichworte: Bankenunion, dass jetzt Banken europäisch beaufsichtigt werden, oder das zweite Stichwort europäisches Semester, was bedeutet, dass nationale Haushalte jetzt inzwischen auch frühzeitig in Brüssel vorgelegt werden müssen und diskutiert werden. Also, auch hier sieht man: Bequemlichkeit ja, aber andererseits haben gerade die letzten Jahre der Finanz- und Schuldenkrise auch wieder viel Umdenken ausgelöst.
Grexit wäre kein Desaster
Kassel: Aber gerade was die Finanz- und Schuldenkrise angeht, muss man doch auch die Frage stellen: Besser ein Schrecken ohne Ende oder ein Ende mit Schrecken? Wäre aus Ihrer Sicht ein Grexit, ein Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone eine Katastrophe?
Heinemann: Nein, das wäre aus meiner Sicht keine Katastrophe mehr. Und daraus lernen wir, ach, ich habe zwar gesagt oder wir haben festgestellt, keine Reform ohne Krise vorher, aber eben nicht aus jeder Krise führt dann auch in jedem Land eine Reform. Und das ist so, wenn ein Land ... Also, Krise ist auch ein Moment der Entscheidung, wenn ein Land wie Griechenland sich gegen einen umfassenden Reformkurs entscheidet und die ökonomischen Voraussetzungen nicht mehr da sind, um etwa in der Währungsunion zu verbleiben, dann ist es eben eine Entscheidung auch mal gegen Europa. Ich bin der Meinung, dass ein Grexit keine ökonomische Katastrophe mehr wäre.
Kassel: Vielleicht sehen manche Politiker das – nicht nur den Grexit, vor allem auch das, was Sie davor schon gesagt haben – so ähnlich wie Sie, nämlich dass eine Krise zu Reformen führen kann und damit zu was Positivem. Ich weiß nicht, wie viele Bürger der EU-Staaten das noch so sehen! Wir haben gestern die gewalttätigen Proteste in Frankfurt erlebt. Der Fairness halber muss man sagen, gewalttätig waren sie aber nicht alle, es gab auch friedliche Kundgebungen. Und da merkt man doch eine sehr prinzipielle Unzufriedenheit fast schon mit dem System EU. Wie kann man die Bürger denn wieder begeistern?
Heinemann: Ja, die EU-Zustimmung ist natürlich gesunken. Ich glaube, man darf sich jetzt nicht von einigen militanten Randalierern, die dann die Kameras bestimmen, unbedingt einprägen lassen, aber es stimmt natürlich, die Zustimmung ist gesunken. Ja, Europa, das ist so der nette Begriff der Fahrradtheorie Europas: Europa, wie ein Fahrrad, muss immer in Bewegung bleiben, braucht neue Projekte, um nicht umzufallen. Und das ist tatsächlich eine große Herausforderung, wo sind jetzt eigentlich die großen, überzeugenden europäischen Projekte? Und da muss Europa nach suchen.
Der konkrete Nutzen muss den Bürgern klar sein
Ich finde durchaus, dass so klein erscheinende Themen wie Energieunion, dass die hier ein großes Potenzial bieten, weil, wir wollen alle die preisgünstige Energie, die zuverlässig fließt, und das in einem Umfeld, wo wir aus der Kernenergie aussteigen, wo vielleicht Russland ein unzuverlässiger Gaslieferant geworden ist. Diese Themen muss die Politik vielleicht auch noch stärker betonen im konkreten Nutzen für die Bürger, und damit kann man dann vielleicht wieder ein paar Punkte zurückgewinnen. Aber psychologisch ist das sehr schwer, dieses Image aufzupolieren.
Kassel: Danke Ihnen sehr! Friedrich Heinemann war das, er ist außerplanmäßiger Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg und leitet außerdem auch den Forschungsbereich "Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft" am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Herr Heinemann, ich hoffe, dass Sie in wesentlichen Punkten, die Sie beschrieben haben, Recht behalten, und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!
Heinemann: Ja, Wiederhören!
Kassel: Wiederhören an Sie! Wir werden bei der EU, vor allen Dingen bei dem aktuellen Gipfel, der heute Nachmittag in Brüssel beginnt, bleiben thematisch. In rund einer Viertelstunde werden wir uns mit dem Leiter unseres Hauptstadtstudios Stephan Detjen darüber unterhalten, welche Rolle dabei Deutschland spielt, spielen soll und gerne spielen will.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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