Krise der Kirche

Friedrich Wilhelm Graf und Paul Zulehner im Gespräch mit Anne Francoise Weber · 19.03.2011
Die Kirche hat dringenden Reformbedarf und muss darüber nachdenken, wie die Bindungskräfte in die Gemeinden hinein gestärkt werden können. Die beiden Theologen Friedrich Wilhelm Graf und Paul Zulehner plädieren für größere Offenheit und mehr Flexibilität.
Anne Francoise Weber: "Kirchenkrise". "Ist die Kirche noch zu retten?" "Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen." "Wohin sich die Kirchen wandeln müssen." "Vom Ende der klerikalen Weltkirche." All das sind Titel oder Untertitel von Neuerscheinungen, die dieser Tage auf der Buchmesse in Leipzig zu finden sind. Eine Textgattung, die spätestens seit der Reformation fest zum christlichen Bestand gehört, feiert Auferstehung: die meist von Theologen vorgebrachte Kirchenkritik. Grund für einen heiligen Zorn über die nicht so heiligen Institutionen gibt es genug: Missbrauchsskandale und deren Vertuschung, autoritäre Strukturen, Personal, dem es häufiger eher um Macht als um Seelenheil geht, verknöcherter Traditionalismus oder aufgesetzte Pseudomodernität. Kritik lässt sich da leicht äußern, schwieriger wird es schon mit Visionen oder gar konkreten Verbesserungsvorschlägen, die auch eine Chance auf Realisierung haben.

Ich habe bei der Buchmesse in Leipzig mit zwei Autoren solcher Bücher gesprochen: dem Münchener evangelischen Theologen Friedrich Wilhelm Graf und seinem Wiener katholischen Kollegen Paul Zulehner, zugeschaltet aus Dortmund.

"Kirchendämmerung: Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen" heißt Grafs Buch. Zulehners auf einer empirischen Studie beruhender Band trägt den Titel "Seht her, nun mache ich etwas Neues. Wohin sich die Kirchen wandeln müssen".

Als Erstes habe ich Friedrich Wilhelm Graf gefragt, ob diese Häufung von neuen Büchern zur Kirchenkrise vor allem eine Reaktion der Verlage auf die Aufdeckung der Missbrauchsskandale im vergangenen Jahr ist, oder ob da ein tieferes und älteres Unbehagen zum Vorschein kommt.

Friedrich Wilhelm Graf: Meine These ist, es handelt sich um ein älteres Unbehagen – ich sag es für den deutschen Protestantismus –, da gibt es eine lange Tradition der Intervention von Theologen, Intellektuellen in den kirchenpolitischen Diskurs. Und da es um die Kirchen nicht besonders gut bestellt ist, ist es doch nur ganz selbstverständlich, dass sich Theologen öffentlich zu Wort melden.

Weber: Bei Ihnen, Herr Zulehner, liegt der Fall ja etwas anders. Sie legen eine empirische Studie mit dem schönen Titel "Verbuntung" vor und greifen auf Umfragen zurück, in denen seit 1970 immer wieder Menschen in Österreich zu Religion und Kirchen befragt wurden. Beobachten Sie denn, dass sich das Interesse an Ihrer Forschung über die Jahrzehnte hinweg verändert hat?

Paul Zulehner: Auch kirchenpolitisch hat sich das sehr verändert. Mir ist das noch nie passiert, dass ein Kardinal ein Ergebnis einer Studie umgehend zitiert hat, jetzt nämlich in der Frage der Kirchenaustritte. Die Kirchen – beide – stecken in einer epochalen Transformationskrise, und mein Lehrer, Peter Berger, der in Amerika als 80-jähriger Religionssoziologe weltweit und international sehr anerkannt lehrt, der sagt: Der Wandel läuft vom Schicksal zur Wahl. Das heißt, früher war Glaube Schicksal, in Österreich in der nachreformatorischen Zeit hatte man eigentlich gar keine andere Wahl, wenn man in Österreich lebte, als Katholik zu sein, oder man wurde ins Jenseits oder ins Ausland ausgewiesen. Heute kann jeder sich einwählen, auswählen, annähern, sich entfernen – mir gefällt es auch sehr gut, was der Herr Graf sagt mit seiner offenen Volkskirche – das ist der Normalfall geworden empirisch.

Weber: Aber es gibt eben auch doch genug Gründe abzuwählen, auszusteigen. Bei Ihnen, Herr Graf, ist zu lesen, die Kirchen hätten eine Wagenburgmentalität, sie schimpfen über Klientelismus oder prophetische Besserwisserei, Moralismus – hat das alles eigentlich noch irgendwas zu tun mit der Institution, die zurückgeht auf Jesus Christus und auf seinen Jünger Petrus?

Graf: Na gut, man kann sagen, der Zustand der Kirchen ist immer weit entfernt von dem gewesen, was bestimmte neutestamentliche Ideale repräsentieren, aber die Situation in der Gegenwart ist anders. Ich will es für die Bundesrepublik sagen, und für die Schweiz und Österreich gilt es analog: Die Kirchen haben in den letzten 30, 40 Jahren permanent über Moral kommuniziert, sie haben zu allen möglichen politischen Fragen Stellung genommen, dann darf man sich nicht wundern, wenn man, wenn man in einer Krise ist, mit seinen eigenen moralischen Botschaften konfrontiert wird.

Weber: Herr Zulehner, Friedrich Wilhelm Graf nennt sieben Untugenden der Kirche, Sprachlosigkeit, Bildungsferne, Moralismus, Demokratievergessenheit, Selbstherrlichkeit, Zukunftsverweigerung, Sozialpaternalismus. Sie haben die Leute gefragt, was sie an der Kirche irritiert oder stört. Finden Sie denn da diese Untugenden wieder, ist es das, was die Leute stört, oder gibt es da noch ganz andere Themen?

Zulehner: Die katholische Kirche leidet unter drei Wahnvorstellungen, die strukturell auch festgeschrieben sind. Erstens einmal, wir haben ein schlechtes Verhältnis zur Macht. Ich glaube, dass die Strukturen der Macht sehr klerikal, sehr autoritär sind, wir haben tatsächlich ein sehr gestörtes Verhältnis zur Macht und zur Synodalität und zur Partizipation. Ein Zweites: Wir haben so etwas wie eine Art Reinlichkeitswahn, einen idealistischen Reinheitswahn. Das gilt für das Dogmatische meines Erachtens genauso wie für die Sexualkultur. Und da fügt sich jetzt als Drittes an: Die katholische Kirche hat einen Männlichkeitswahn. Das heißt, wir haben immer noch den Verdacht gegen das gesamte Paket – Frauen, Sexualität –, ich glaube, das hängt sehr zusammen, und das geht bis tief in die Theologie hinein.

Weber: Und warum bleiben dann doch noch einige immerhin in der Kirche?

Zulehner: Ja, das war das irgendwie für uns überraschende Ergebnis, da hat Allensbach, das Institut für Demoskopie in Deutschland, schon einmal vorgespurt in einer Studie für Kirchenaustritte: Man dachte, die Irritationen seien die Ursache, und nun merken wir in unserer Studie, dass es eine Balance gibt zwischen Irritationen und Gratifikationen. Also was gewinne ich für mein Leben, wenn ich in diesem Verbund einer kirchlichen Gemeinschaft bleibe? Das ist das Spitzenkriterium bei den Gratifikationen. Und wir haben entdeckt, dass letztlich spielentscheidend für das Bleiben oder für das Gehen nicht die Irritationen sind. Und das, was ja interessant ist, wir haben eine sehr starke Austrittsstudie auch jetzt 2010 mitgemacht angesichts der Missbrauchsgeschichte, und da haben wir auch die evangelische Schwesternkirche mit untersucht, und es haben 30 Prozent über den Austritt nachgedacht. Und dann ist ein Teil geblieben, ein Teil real gegangen, und was das Hochinteressante ist: Es bleiben ungefähr in der katholischen Kirche 40 Prozent im Austritts-Stand-by und in der evangelischen Kirche 66 Prozent. Das heißt, wir haben eine Situation, die außerordentlich labil geworden ist für die beiden Großkirchen. Und insofern ist das schon eine massive Provokation jetzt für die Kirchenleitungen und für die Inszenierung des normalen katholischen Lebens. Wird es uns gelingen, nach einer Zeit, wo man gar nicht anders konnte, denn soziokulturell dazuzugehören, Bindungskräfte zu stärken?

Weber: Herr Graf, die Kirchen haben es aber ja nun auch nicht so richtig einfach. Einerseits sagen Sie, sie sollen sich nicht überall in die Politik einmischen, das wäre nicht ganz der richtige Weg, andererseits warnen Sie und auch Herr Zulehner vor einer Flucht in so eine Wellness-Religion und -Spiritualität. Nehmen wir jetzt ein ganz konkretes Beispiel, eins, was ständig durch die Nachrichten geht, diese Erdbebenkatastrophe in Japan. Kann man da nicht davon ausgehen, die Menschen wollen a), dass die Kirchen sich positionieren gegen Atomkraft, und b), sie wollen, dass die Kirchen ihnen einen sicheren Hafen bieten, in den sie sich zurückziehen können vor dieser grausamen Welt?

Graf: Was ich für schwierig halte, ist, wenn die Kirchen in eine Situation sich bringen, in der sie meinen, sie könnten zu allem und jedem kompetent etwas sagen. Damit können sie sich nur überfordern. Ich bin ja Professor in Tokio, insofern ist dieses Japan-Thema für mich sehr, sehr wichtig. Was wir da jetzt erleben, zwingt natürlich zu einem religiösen Deutungsbedarf. Eine so nüchterne Frau – Physikerin – wie die Bundeskanzlerin redet plötzlich von Apokalypse, also braucht plötzlich religiöse Sprache, um überhaupt auch ihren Erfahrungswandel zu thematisieren. Natürlich sind die Kirchen da gefordert, aber abermals gilt: Weniger ist mehr, ist mehr Behutsamkeit im Deuten solcher Prozesse, mehr Hinweis auf die Ambivalenz, denn wir können ja in der Bundesrepublik die Atomkraftwerke abschalten. Da müssen wir nur bitte sagen, woher wir denn alternativen Strom bekommen.

Weber: Und das werden die Kirchen nicht sagen wahrscheinlich.

Graf: Genau, und das werden die Kirchen nicht sagen.

Weber: Sie beklagen beide, dass die Pfarrer das nicht unbedingt alles immer so richtig machen oder vielleicht auch nicht richtig machen können unter diesem Druck. Bei Ihnen, Herr Graf, ist auch noch eine ganz besondere Spitze gegen die Pfarrerschaft, die Ihrer Meinung nach immer bildungsferner wird und immer weniger intellektuellen Anspruch hat. Sie machen da auch an anderer Stelle noch expliziter besonders junge Frauen dafür verantwortlich, die aus kleinbürgerlichen Schichten kommen und eben eher so einen – wie Sie sagen – Muttityp verkörpern, als da intellektuell wirklich große Predigten zu halten. Ist das nicht auch ziemlich elitär? Ich meine, man kann ja nicht von Pfarrern und Pfarrerinnen verlangen, dass die predigen wie ein Friedrich Schleiermacher. Und außerdem, wer würde sich davon angesprochen fühlen? Auch wirklich nur ein Bildungsbürgertum, oder?

Graf: Na ja, also zunächst sag ich jedenfalls zu diesem Stichwort Feminisierung: Wir haben im Moment 33 Prozent Pfarrerinnen in der EKD, wir kennen aber Landeskirchen, bei denen der Pfarrerinnen-Nachwuchs inzwischen 60 Prozent ist, also wir haben diese Feminisierung. Wir haben sie leider nicht in Leitungsämtern. Wir haben sie schon auf den mittleren Funktionärsebenen, also Dekane, Superintendent und so weiter, nicht, und wir haben sie erst recht nicht im Bischofsamt, und wir haben sie leider auch nicht in der akademischen Theologie. Die Kirche ist für viele junge Frauen kein attraktiver Arbeitgeber.

Weber: Herr Zulehner, wenn Sie hören, dass man hier über die Feminisierung der evangelischen Kirche nachdenkt und nachdenkt, ob das gute oder schlechte Folgen hat, sind das für Sie nicht so ein bisschen Luxusprobleme? Ich meine, in der katholischen Kirche ist da weit und breit keine Feminisierung in Sicht, oder?

Zulehner: Na ja, wir haben schon auch sehr viele Frauen im seelsorglichen Dienst, auch im diakonal-karitativen Dienst sind die Frauen überwiegend. Ich sehe diese Frage noch aus einem anderen Horizont her. Ich hab ja in den letzten Jahren, seit 1992, Männerforschung gemacht. Ich glaube, dass es auch in der katholischen Kirche zutrifft, was generell in der Kultur zutrifft, dass es Halbierungen gibt in dem Zugang zu dem gesamten Reichtum der Wirklichkeit, die wir für uns haben. Also zum Beispiel glaube ich, dass die Männer sehr wortbedacht sind, auf das Rationale, auf den Diskurs setzen. Auch Sie, Kollege Graf, in Ihrem Buch unterstützen das auch zu Recht, glaube ich, das ist die Stärke, aber es gibt zugleich heute eine sehr große Neubewertung des Rituals, wenn man sagt: Das Wort erreicht die Ratio, das Ritual sozusagen die Tiefe der Seele, das Unbewusste und liegt an der Schnittstelle zum Gemeinschaftlichen. Ich glaube, wir würden beides brauchen, wir würden Wort und Ritual brauchen, wie es ja in der Feier der Taufe oder in der Feier des Herrenmahles sehr gut miteinander verbündet und verbunden ist. Und so, glaube ich, müssten die Männer lernen, das Ritual zu schätzen, aber die Frauen dürften dabei nicht wortvergessen werden. Und das wäre die hohe Kunst auf die künftige Entwicklung hin, dass wir die Halbierungen überwinden in Richtung auf eine Ganzheitlichkeit auch der religiösen Erfahrungen.

Weber: Herr Graf, Ritual, messen Sie dem als Protestant auch so einen großen Wert bei wie Herr Zulehner - und die Präsenz in der Welt, wie sieht es damit aus?

Graf: Ich schlage vor, zunächst zu sagen, dass die christlichen Konfessionskirchen an dem Punkte unterschiedliche Profile ausgebildet haben. Der deutschen Protestantismus war immer ein Projekt der Ohrenreligion, der Wortkultur, und der Katholizismus ist immer sehr viel stärker eine Augenreligion gewesen. Und man kann sagen, es gibt so etwas wie ein Sinnlichkeitsdefizit in der protestantischen Wortkultur, und das ist auch schlecht, weil …

Zulehner: Und ein Wortdefizit im Katholizismus.

Graf: Genau, es gibt aber ein elementares Wortdefizit im Katholizismus. Ich habe überhaupt nichts gegen Rituale, ich weiß, wie wichtig Rituale sind, aber man muss das eine in Beziehung zu dem anderen setzen und darf hier nicht Dinge gegeneinander ausspielen. Ich würde gerne noch etwas sagen zu dem Thema Christen und Politik. Wir haben keine klassischen christlichen Milieuparteien mehr, auch die C-Parteien in Deutschland sind das nicht mehr. Christen und Politik heißt, autonome Bürger mit christlichem Hintergrund, die sich politisch engagieren, das ist etwas sehr, sehr anderes als politische Interventionen der Kirchen, die in aller Regel nicht wirklich die Meinung eines Großteils des sogenannten Kirchenvolks wiedergeben. Das Christliche bedeutet ja nicht, dass ich von vornherein immer die richtige politische Einsicht oder die angemessene Analyse habe.

Weber: Aber dass ich mich darum bemühe.

Graf: Aber politisches Engagement ist für den Christen als Bürger für mich in meinen Augen sehr wichtig, wobei politisches Engagement vielgestaltig sein kann. Der eine kümmert sich um den Kindergarten, und der andere kümmert sich also parteipolitisch um die Gemeinde und wieder ein anderer will politische Karriere machen.

Zulehner: Die Kultur der Hirtenworte, der Sozialbriefe und so, die ist ohne dies ziemlich vorüber, weil die wirken im Grunde genommen nicht, sondern wir sehen in unserer Studie 2010, dass die Erwartung der Bevölkerung generell, ob kirchlich oder nicht kirchlich, in Bezug auf solche Äußerungen der Kirchenleitung nicht sehr stark und übermächtig ist. Aber worauf es ankommen würde, würde ich jetzt als Theologe sagen, ist, dass in allen wirklich wichtigen Bereichen unserer kulturellen Entwicklung – das ist in der Musik, das ist in der Poesie, das ist in der Wissenschaft, das ist in den Medien, das ist in der Politik selber, in der parteipolitischen, unsere Christen wirklich als randvoll mit dem Evangelium als Person präsent sind und mit Fachkompetenz gestalten. Und ich glaube, nur so leistet die Kirche ihren Beitrag in der Entwicklung unserer Gesellschaften und unserer Welt.

Graf: Das ist doch reflexartig. Kaum sagt irgendein deutsches Gericht, Präimplantationsdiagnostik ist gar nicht verboten im Lande, schon haben Sie eine halbe Stunde später bei KNA oder epd die aufgeregte Empörung und moralische Empörung von irgendwelchen Bischöfen, die dann politischen Lobbyismus machen. Das sind Prozesse, in denen ein Stück weit die Kirchen auch ihre Glaubwürdigkeit verlieren, weil die Leute einfach nicht glauben, dass die immer das Richtige sagen. Es gibt in der Bundesrepublik dafür wunderbare Beispiele. 70 Prozent aller Deutschen wollen einen selbstbestimmten Tod, was immer selbstbestimmter Tod im Einzelnen bedeuten mag, und dann nehmen sie die Position der Kirchen überhaupt nicht ernst. Und wenn Sie von 70 Prozent der Deutschen reden, bedeutet das auch, dass es da um eine Mehrheit von Mitgliedern der Kirchen gibt, die das, was ihre Kirchenleitungen und Bischöfe dazu sagen, überhaupt nicht für ernst nehmen.

Weber: Ich würde jetzt gern noch zu einem anderen Thema kommen, nämlich den Muslimen, aber über den Umweg, dass Sie, Herr Graf, auch von einer Islamisierung des Christentums schreiben – ich meine, da muss ja manchen Christen wirklich das Herz fast stehenbleiben –, das heißt aber jetzt nicht, dass die Christen sich auf Mohammed und den Koran beziehen würden, sondern das heißt was anderes. Erklären Sie es uns!

Graf: Sie erleben doch etwas ganz Spannendes. Leute, die aus der Kirche treten, treten keineswegs aus dem Christentum aus. Die bleiben in einer mehr oder minder intensiven Verbundenheit mit christlichen Traditionsbeständen. Die gehen am Heiligabend in die Kirche, die wünschen, dass ihre Enkelkinder getauft werden, die wollen selbst christlich beerdigt werden und so weiter. Diesen Prozess nenne ich die strukturelle Islamisierung der christlichen Kirchen. Warum? Wir haben ja immer gesagt, na ja, das Christentum ist eine Organisationsreligion, da gibt es feste institutionelle Formen, und beim Islam gibt es das nicht und das ist ein Problem. Da gibt es eine spannende Paradoxie: Denen sagen wir, mehr Organisation, und wir erleben bei uns gleichzeitig, dass das Organisationelle sehr, sehr fragil und brüchig geworden ist.

Weber: Und jetzt ist ja die Frage: Funktioniert dieses Modell des Islam, also ohne starke Institution? Wie sieht es da empirisch aus, Herr Zulehner – Sie haben ja auch Muslime befragt –, hat denn der Islam bessere Bindungskräfte als das Christentum heutzutage?

Zulehner: Wir beobachten, dass die erste Generation der Männer, die aus Anatolien kommen, die aus Serbien kommen, aus Bulgarien kommen, aus Herzegowina, aus dem Balkan, dass diese Muslime mit einem höchst autoritär stilisierten Islam kommen, also absolut unterwerfungsbereit, und zwar unterwerfungsbereit im Sinne von Adorno, das heißt, Recht hat, wer oben ist, man beugt sich der Autorität, und zwar bedingungslos. Und in der zweiten Generation haben wir nur mehr die Hälfte davon, die diese autoritäre Struktur haben, und die Dramatik besteht darin, dass wenn sie in der modernen Kultur jetzt freiheitlich werden, dass faktisch damit aber auch ihre islamische Gläubigkeit säkular wird. Und was übrig bleibt, ist dann ein nicht autoritärer Kulturislam, der sich lediglich an der Feier des Ramadan noch festmacht. Das wäre so wie bei unseren Christen, die dann halt zu Weihnachten in die Kirche gehen, fasten die dann nachher im Ramadan, und das ist das Einzige, was sie noch als Muslime ausweist.

Weber: Ich würde gern zum Abschluss wieder auf die Kirchen kommen und Sie ganz kurz um eine Antwort bitten auf erstens die Frage: Warum soll man überhaupt die Kirchen retten? Wäre denn ein Christentum ohne Kirche, vielleicht nur mit Basisgemeinden, nicht irgendwie auch ehrlicher, Herr Graf?

Graf: Zunächst muss man doch sagen, dass Gesellschaften unseres Typs – denken Sie nur an das Stichwort demografischer Wandel – einen wachsenden Bedarf an sozialdiakonischen Dienstleistungen haben. Es ist so ähnlich wie mit der Atomkraft, Sie können ja sagen, wir brauchen diese Brückentechnologie nicht mehr, aber dann müssen Sie auch darüber nachdenken, was an die Stelle von Caritas und Diakonie tritt. Das Zweite ist: Ein Verlust an kirchlich organisierter Religion bedeutet in meinen Augen auch einen kulturellen Verlust. Also es ist kein schöner Zustand, religiös unmusikalisch zu sein, so wie es auch kein schöner Zustand ist, ästhetisch unsensibel zu sein. Man verliert etwas. Und das Dritte ist: Es gibt sehr, sehr viele Menschen, die von religiösen Institutionen wie den Kirchen etwas erwarten – Passageriten, gute Gottesdienste –, und diese Menschen, finde ich, haben einen Anspruch darauf, dass sich diese Organisationen darum bemühen, besser zu sein, als sie derzeit sind.

Weber: Herr Zulehner, teilen Sie das, also wegen der Diakonie, Caritas, wegen des Reichtums irgendwie, des kulturellen Reichtums, dass deswegen die Kirchen gerettet werden müssen?

Zulehner: Ich glaube, das sind gute Argumente, die auch empirisch sehr gut übrigens begründet sind in unseren Studien, das bindet die Leute nach wie vor an die Kirche, und deswegen wünschen sie, dass auch Kirchen arbeiten, ob sie Mitglied oder nicht. Das ist hochinteressant, dass man diese Erwartungen ja auch weiter pflegt, auch wenn man die Kirche längst verlassen hat. Ich will nur im Modus der Frage aber doch noch ein bisschen radikaler sein. Ich glaube, dass wenn es keine christlichen Kirchen mehr geben würde, angenommen, es auch kein Christentum langfristig geben wird.

Graf: Nur ein Satz: Auch ich bin davon überzeugt, dass man das Christentum nicht tradieren kann, wenn es keine Organisation oder Institution geben kann …

Zulehner: So ist es.

Graf: Da gibt es überhaupt keine Differenz. Das Entscheidende ist nur, das schließt nicht aus, dass diese Organisation sehr viel flexibler sein muss, als sie bisher ist.

Weber: Ich hatte ja zwei Abschlussfragen angekündigt, deswegen jetzt noch die zweite mit wirklich der Bitte um eine knappe Antwort: Angesichts der Trägheit der Institutionen, angesichts der allzu menschlichen Interessen, die da überall drinstecken, ist das Ganze überhaupt realisierbar, werden die Kirchen sich grundlegend ändern? Herr Graf!

Graf: Sie werden sich dann grundlegend ändern, wenn ihre ökonomischen Probleme ernst werden. Bisher sind sie in Deutschland noch bemerkenswert wohlhabend, und solange da immer noch Geld auch vom Staat reinfließt, kommen Reformimpulse nicht an.

Weber: Herr Zulehner!

Zulehner: Die Schwierigkeit besteht ja darin, dass wir zurzeit in einer derartig auch kulturellen Transformationskrise erneut drinnen stecken, seit Japan spätestens unübersichtlich, dass vielfach wahrscheinlich die Kirchen jetzt wieder aus einem ganz neuen Grund verunsichert sind, in welche Richtung sie sich entwickeln sollen.

Weber: Das Buch von Friedrich Wilhelm Graf, Professor für evangelische Theologie in München, heißt "Kirchendämmerung: Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen". Es ist erschienen bei C. H. Beck in der Beck’schen Reihe, umfasst 192 Seiten und kostet 10,95 Euro.

Die beiden Bücher "Seht her, nun mache ich etwas Neues. Wohin sich die Kirchen wandeln müssen" und "Verbuntung" von Paul Zulehner, emeritierter Professor für katholische Pastoraltheologie in Wien, erscheinen im Mai im Schwabenverlag.

Nochmal ganz herzlichen Dank an Sie beide!