Kriegskinder. Lebensenergien in finsteren Zeiten

Von Hans-Eckehard Bahr · 25.06.2005
Ich war 16 Jahre alt, als ich in den Krieg musste. Das war im Januar 1944. Im August schon waren von den 17 Jungen meiner Schulklasse nur noch neun übrig. Die anderen waren von Granaten zerfetzt, in fremden Häusern verbrannt. Und keiner, der sie zudeckte. Von diesen Leidenserfahrungen der Deutschen werden wir seit Wochen fast erdrückt. Die Gegenwart der Vergangenheit.
Ich bin ein Zeitgenosse von damals. Was mich aber verwirrt, das ist diese monomanische Entschlossenheit, die Zeit damals als eine einzige Leidensphase darzustellen, als eine Art geschlossenen Schreckenszusammenhang. Ich erinnere mich aber auch an das ganz Andere. An das kleine Mädchen im brennenden Stettin mit einer Puppe im Arm, ein Kätzchen streichelnd. Ich sehe Dietrich Knüppel vor mir, den Jungen aus der Untersekunda, der mich aus der heruntergestürzten Hauswand zieht, sein eigenes Leben dabei riskiert. Beides also erinnere ich, das Entsetzen und das Lächeln.

In Köln sah ich kürzlich eine Foto-Ausstellung. Fotografinnen und Fotografen waren 56 Mädchen und Jungen zwischen acht und 14 Jahren. Ihnen wurden Einwegkameras gegeben mit der Bitte, eine Woche lang ihr Leben zu fotografieren. Kinder, die ihre Vertreibung aus der Heimat, Zerstörung und Tod von nahen Menschen erlebt hatten; Kinder, die von Ängsten gepeinigt waren und Ungewissheiten über den Verbleib der Eltern oder den Zustand ihrer Wohnungen. Die Fotos entstanden 1999 kurz nach Beendigung der NATO-Angriffe auf serbisches Militär und unmittelbar nach der Rückkehr der Flüchtlinge aus ihren Lagern in Mazedonien in ihre Heimatorte im Kosovo.

Diese Fotos überraschen mich: Sie zeigen ein gleichrangiges Nebeneinander: Zerstörung auf der einen Seite und innige Familienszenen auf der anderen, spielende Kinder in den Trümmern einer Moschee und herrliche Naturaufnahmen. Mit keiner Silbe wird auf diesen Bildern verschwiegen, dass Kindheit im Krieg extrem belastet ist, dass körperliche und seelische Verletzungen oft die lebenslangen Folgen sind.

Immer wieder sind Kinder in Krisen-Situationen aber auch Überlebenskünstler. Was hat ihnen geholfen, dennoch zu leben? Welche Zuversicht, welche Lebensenergien? Die Jüdin Zdenka Fantlova, die den Holocaust nur knapp überlebt hat, stellt fest: "Wahrscheinlich trägt jeder Mensch ein Kästchen für letzte Lebenshilfe mit sich. Nur wissen wir nicht, was darin ist, bis es sich im kritischsten Augenblick selbst öffnet. Es sind keine Arzneimittel und Notverbände drin. Vor allem aber birgt das Kästchen Stärke, eine ungeheure, unbekannte, rätselhafte Stärke, von deren Existenz wir bis dahin gar nichts wussten. Diese Stärke kommt nur in äußerster Not zum Vorschein, wenn es ums nackte Leben geht. Nur mit ihrer Hilfe können wir wie durch ein Wunder auch scheinbar Unmögliches erreichen."

Für jedes der überlebenden Kinder in den verschiedenen Kriegen dieses Jahrhunderts sieht dieses Schatzkästchen anders aus. Immer aber vermittelt es eine Gewissheit, dass man nicht alleine ist, selbst im Schlimmsten nicht. Wenn nahe Personen Schutz bieten, dann können die Bedrohungen anders verarbeitet werden. Verlässliche Beschützer, das ist das Wichtigste. Zentral ist und bleibt das Spielen mit anderen Kindern. Indianerspielen, Verstecken, Räuber und Gendarm, Ballspielen. Immer betreten die Kinder im Spiel Gegenwelten. Die blühende Natur, Tiere, beschützende Menschen, beten - indem man diese Gegenwelten betritt oder erspielt, versucht man der bedrohlichen Situation ein Gesicht zu geben, das Unheimliche zu entzaubern. So gelingt es, nicht schicksalsergeben abzusinken oder zu fliehen, in eine Krankheit, in Süchte oder andere Verzweiflungen.

Ja, Kinder können paradoxerweise gerade auch wachsen in schwierigen Situationen, bekommen Selbstvertrauen, sehen die Welt als Raum großer Hoffnungen, ja, großer, wunderbarer Alltäglichkeit. Kinder? Jugendliche? Da werden doch Erfahrungen benannt, die für uns scheinbar Erwachsene ebenso überlebenswichtig sind.


Hans-Eckehard Bahr, Jahrgang 1928, Theologe, 1966 Professor an der University of Chicago, Mitarbeiter von Martin Luther King; seit 1967 ordentlicher Professor für praktische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum. 1971 Berufung zum Kurator der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung Bonn. Seit 1994 Leiter des Forschungsprojekts "Jugendgewalt und Stadtfrieden". Zahlreiche Publikationen zur Friedens- und Konfliktforschung, speziell zu den Chancen gewaltfreier Politik im 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen u. a.: "Erbarmen mit Amerika. Deutsche Alternativen", 2003; "Martin Luther King. Für ein anderes Amerika", 2004.