Kriegserinnerungen

Wie die Schildkröte des Zenon

Von Carola Wiemers · 12.03.2014
Die Erzählerin versucht die Schrecken des Zweiten Weltkriegs anhand ihrer Familiengeschichte nachzuvollziehen. Umgeben von zweifelhaften Notizen und vergilbten Dokumenten ist es ein schwieriges Unterfangen und erinnert an den Wettlauf von Achilles und der Schildkröte, den Achilles niemals gewinnen kann.
Katja Petrowskajas Reise in das Labyrinth der Geschichte beginnt im heutigen Berlin. Nach Ansicht der Ich-Erzählerin ist die Metropole eine der "friedlichsten Städte der Welt", da sie den Frieden "aggressiv betreibt", um an den Krieg zu erinnern. Um den verdorrten "Familienbaum" wieder zum Blühen zu bringen, begibt sich die 1970 in Kiew Geborene an Orte, wo den Nachgeborenen die Trauerarbeit schwer gemacht wird: Katyń, Warschau, Babij Jar, Mauthausen, Auschwitz.
In Babij Jar wurden die Menschen mehrfach gezwungen, die Spuren der Massaker zu liquidieren. Erst 1961 setzte der russische Dichter Jewgenij Jewtuschenko mit seinem Gedicht "Babij Jar", das von Paul Celan ins Deutsche übersetzt und 1962 von Dmitri Schostakowitsch vertont wurde, den namenlosen Opfern endlich einen Gedenkstein. Damit wird Babij Jar zur Chiffre für die Verbrechen im 20. Jahrhundert.
Umgeben von Geschichtstableaus, die in sieben Kapiteln ohne Chronologie aneinandergereiht sind, fühlt sich die Erzählerin in einer paradoxen Situation. Jetzt, wo sie bereit ist, gegen die Windmühlen der Erinnerung zu kämpfen, ist niemand mehr da, den sie befragen kann. Tante Lida hinterlässt nur ein Rezept für Kwas, dem russischen Nationalgetränk. Mit ihrem Tod sind auch der "gefilte Fisch" und das Wort "Zimmes" verschwunden. Ihre zerklüftete Biografie steht neben den vagen Erinnerungen an Babuschka Rosa, die im Krieg ein Waisenhaus im Südural aufbaute, und neben den Verdiensten ihres Urgroßvaters, der in Warschau eine Taubstummenschule leitete.
Was bleibt, sind anonyme Quellen, zweifelhafte Notizen und vergilbte Dokumente in den Archiven, die bei der Recherche in den Händen zerfallen. Bald hat die Erzählerin das Gefühl, sich am Wort Geschichte zu "verschlucken". Denn was beweisen die Fakten, wenn selbst die politischen Hintergründe des verbürgten Attentats ihres Großonkels Judas Stern auf den deutschen Botschaftsrat Fritz von Twardowski am 5. März 1932 in Moskau unklar bleiben. Oder was ist mit dem in Kiew zurückgelassenen Fikus, der 1941 bei der Evakuierung der Juden dem Vater das Leben gerettet haben soll?
In Petrowskajas kosmopolitischer Text-Montage, die von russischen, polnischen, deutschen, jiddischen Sprachströmen bewegt wird, markieren die Episoden ihren Weg durch ein historisches Labyrinth. Ihr Erzählen basiert auf einem Prinzip, das an das Paradoxon von Achilles und der Schildkröte erinnert. Es besagt, dass der griechische Held den Wettlauf gegen sie nicht gewinnen kann, weil er ihr einen Vorsprung gibt und immer erst diesen bewältigen muss.
Im schleppenden Gang der Großmutter, deren Name "Vielleicht Esther" war, und die 1941 erschossen wurde, entwickelt sich ein episches Geschehen, das alle Geschichten zusammenhält. Ihr Vorsprung in der Zeit, der nur rückwärts zu lesen ist, gleicht dem der Schildkröte des Zenon. Während die Großmutter einsam "gegen die Zeit" geht, stolpert die Erzählerin hinter ihr her, ohne sie jemals einholen zu können.

Katja Petrowskaja: "Vielleicht Esther"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
285 Seiten, 19,95 Euro