Kriegserfahrungen

Rasend nah am Abgrund

Der französische Schriftsteller Blaise Cendrars (bürgerlich Frederic Sauser) Anfang der 50er-Jahre. Er wurde am 1. September 1887 in La Chaux-de-Fonds geboren und verstarb am 21. Januar 1961 in Paris.
Der französische Schriftsteller Blaise Cendrars (bürgerlich Frederic Sauser) Anfang der 50er-Jahre. © picture alliance / dpa / Foto: AFP
Von Katharina Döbler · 19.07.2014
Die Schrecken und Brutalität des Ersten Weltkrieges hat Blaise Cendrars in "Ich tötete - ich blutete" sprachlich so intensiv komprimiert, dass man sich davon so schnell nicht erholt. Es schreibt ein Mensch, der die Bilder von Verstümmelungen und Toten nicht mehr los wurde.
"Erzählungen aus dem Großen Krieg" lautet der Untertitel dieses kleinen Buches, aber für die drei schmerzhaft hyperrealistischen Texte, die es enthält, scheint er allzu harmlos. Lediglich der mittlere ("Ich blutete"), der Blaise Cendrars' langsame Wiederauferstehung nach der Amputation seiner rechten Hand zum Gegenstand hat, ist im üblichen Sinne "erzählend" und auch erklärend. Die beiden anderen sind eher so etwas explosive sprachliche Komprimierungen der Brutalität und der Begierde.
Nicht zimperlich in der Wahl der sprachlichen Mittel
Cendrars, der während des als "Herbstoffensive" in die Geschichte eingegangenen Gemetzels 1915 in der Champagne verwundet wurde, wagte in diesen Prosastücken sprachlich wie emotional sehr viel; in einem später entstandenen Buch über seine Kriegserfahrungen ("La main coupée", 1946) hat er sich, obwohl auch da nicht zimperlich in der Wahl der sprachlichen Mittel, sehr viel dezenter ausgedrückt und sehr viel weniger von sich selbst preisgegeben.
Das erste Stück des vorliegenden Bandes ("Ich tötete", erstmals 1918 mit Illustrationen von Fernand Léger publiziert), ist ein schwarzes Sprachkunstwerk ersten Ranges. Nicht nur das Entsetzliche auf dem Schlachtfeld fasst es in Worte, die "Granattrichter, bis oben hin voll von Abfall; Terrinen von namenlosen Sachen, Jus, Fleisch, Kleider und Kot", es assoziiert auch die abendländische Apokalypse: "...da liegen lächerliche Leichen, in Mumienstarre, bilden ihr kleines Pompeji".
Dann folgen in einer rhapsodischen Aufzählung über knapp zwei Seiten weltweite Errungenschaften der Zivilisation, ihre Errungenschaften, Fertigkeiten, Institutionen, bis schließlich der ganze Text in einem archaischen Tötungsakt - mit Fäusten, mit Messerstichen, im Blutrausch - explodiert. "... ich, der Dichter. Ich habe gehandelt. Ich habe getötet." Es ist ein Text, von dem man sich nicht so schnell erholt.
Ein traumatisierter Dichter
Der Herausgeber Stefan Zweifel, eine ausgewiesener Cendrars-Kenner und Übersetzer u.a. der Werke de Sades, deutet ihn in seinem höchst ausführlichen Kommentar als Vorläufer des später entstandenen "Monsterromans" über einen mehrfachen Frauenmörder: "Moravagine" (1926). Darin beschwor der traumatisierte Dichter sein destruktives Alter Ego als amoralische Kunstfigur. Das Buch ist vor kurzem in einer von Zweifel überarbeiteten Fassung bei der Anderen Bibliothek neu herausgekommen.
Die Lust an der Zerstörung hat den stets exzessiv lebenden und schreibenden Cendrars sein Leben lang begleitet, wie man aus seinen zahlreichen autobiografischen Schriften weiß: Dieses Rasen und Rasten nah am Abgrund, die poetische Ausleuchtung des Irrationalen in allen möglichen Schattierungen - sie machen den Reiz seines Werkes aus. Und hier, in einer Wahnsinnsprosa über das Töten, das Beinahe-Sterben und die sexuelle Gier, liegt offenkundig auf nur hundert kleinformatigen Seiten dessen Essenz.

Blaise Cendrars: "Ich tötete – ich blutete"
Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Stefan Zweifel
Lenos Verlag, Zürich 2014
199 Seiten, 21,90 Euro

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