Krieg

"6. Juni 1944: Hochdramatisch war der Tag"

Von Joachim Scholl · 01.06.2014
Bertolt Brecht saß gerade im entfernten Kalifornien beim Schach, als er die Neuigkeit erfuhr: Am 6. Juni 1944 begann die Landung alliierter Truppen in der Normandie. Wie reagierten Schriftsteller auf das historische Ereignis?
"Achtung, Achtung, hier ist die BBC, London. Wir senden nun Mitteilungen in französischer Sprache: (kurze Pause) „Les sanglots longs de violons de l'automne/ Blessent mon coeur d'une langueur monotone..."
"Les sanglots longs de violons de l'automne/ Blessent mon coeur d'une langueur monotone" - "Das lange Schluchzen herbstlicher Geigen/ Die mein Herz mit langweilender Mattigkeit verwunden" – an einem Dienstag, in der Nacht zum 2. Juni erklingt im britischen Rundfunk französische Poesie. Nur die ersten beiden Zeilen von "Chanson d'Automne", aus dem Gedicht "Herbstlied" von Paul Verlaine. Aber das genügt, die Empfänger reagieren wie elektrisiert.
Es ist eine literarisch verschlüsselte Botschaft an die Résistance, die Widerstandsbewegung im besetzten Frankreich. Jahrelang haben die Untergrundkämpfer auf diese Verse gewartet, die jetzt nur eines bedeuten: Innerhalb der nächsten 48 Stunden beginnt hier, auf dem Kontinent, der große Angriff - die Invasion.
Noch einmal wird die Geduld der Untergrundkämpfer im besetzten Frankreich auf eine harte Probe gestellt. Die erlösende Poesie Paul Verlaines erklingt in der Nacht zum 2. Juni. General Dwight D. Eisenhower, der amerikanische Oberbefehlshaber der alliierten Landungstruppen, hat den Invasionstermin auf den 4. Juni gelegt. Drei Millionen Soldaten sind an der südenglischen Küste zusammengezogen. Mehr als 5000 Schiffe drängeln sich in den Häfen am Kanal. 7000 Kampf- und über 2000 Transportflugzeuge stehen bereit. Doch dann schlägt das Wetter um, Sturm kommt auf. Die erste Welle an Schiffen, die bereits unterwegs ist, muss umkehren. Das Warten wird unerträglich.
18.000 britische und amerikanische Fallschirmjäger
"In der ganzen Welt fragten sich die Menschen, wann es soweit sein würde, und nicht wenige beteten. Aber nirgends war die Spannung größer als in London. Hier fühlte man das Drama, auf beinahe schmerzend körperliche Weise. Es war so nah, nur eine Stunde entfernt, bis zur Küste im Süden."
Der kanadische Kriegs-Korrespondent Lionel Shapiro in seinem 1956 veröffentlichten Roman "The 6th of June".
"Man sah die Coventry Street und Piccadilly Circus voller Uniformen und verspürte eine große Wärme für die gesichtslose Masse der Soldaten, die früher hier nach Vergnügen und Zerstreuung Ausschau hielten, aber jetzt nur auf dem Weg waren zum Kanal. Man sah die Kuriere durch die Straßen jagen, von einem geheimen Hauptquartier zum nächsten, und in Stabsfahrzeugen erhaschte man die Silhouetten von Generälen und Admirälen. Sie schauten grimmig, als ob etwas tragisch schief gelaufen sei, in der letzten Minute. Die Menschen gingen in die Pubs, um die endlosen Abende zu verkürzen. Hier war es am schlimmsten. Die Lokale waren voll und trotzdem tödlich still. Warum nur? Man erinnerte sich daran, als London wehrlos dalag und auf den deutschen Angriff, die deutsche Invasion wartete. Damals herrschte eine andere Stimmung, man lachte und machte flotte Sprüche. Jetzt war anscheinend selbst den Barmädchen der Humor vergangen. Es ist diese verdammte Warterei, sagten die Leute zu sich, aber es war der Tod an den Stränden, an den sie in Wahrheit dachten."
"The Canal troops are landing, they are landing all around me, as I speak, red and white parachutes fluttering down, in perfect formation..."
Am 6. Juni ist "D-Day", decision day, der Tag der Entscheidung. Ab 1.00 Uhr nachts landen 18.000 britische und amerikanische Fallschirmjäger im Hinterland der normannischen Küste zwischen San Mére Église und Caen. Sie treffen auf einen völlig überraschten Gegner.
"... a very unpleasant surprise for the enemy. You can hear the aircraft roaring over me... I can see the typical signs of a Panzer battle, raging three or four miles ahead of me, in the sand dunes..."
Ernst Jünger ist als Offizier im Generalstab von Paris stationiert
Eine Panzerschlacht, die der britische Reporter der BBC gehört haben wollte, findet nicht statt. Die gefürchteten SS-Panzerdivisionen liegen weit hinter der Küste und dürfen nur auf direkten Befehl von Hitler selbst eingesetzt werden. Die Luftwaffe hat ihre Kampfflugzeuge noch Tage zuvor in den Süden verlegt. Darüber ist es zum erbitterten Streit zwischen Hitler und Generalfeldmarschall Erwin Rommel, dem Oberkommandierenden in Frankreich, gekommen. Rommel ahnt, dass sich etwas zusammenbraut. Hitler erwartet die Invasion starrsinnig woanders, der Feind würde es nicht wagen, seinen unüberwindbaren "Atlantik-Wall" zu attackieren.
Rommel bleibt skeptisch. Aber mit Blick auf das schlechte Wetter ist er noch am Sonntag, den 4. Juni zu einem Kurzurlaub in seine schwäbische Heimat aufgebrochen. Niemand rechnet bei dieser Witterung mit einer Offensive. Auch nicht der deutsche Schriftsteller Ernst Jünger, der als Offizier im Generalstab von Paris stationiert ist. Zwei Tage später verzeichnet sein Tagebuch das spektakuläre Ereignis:
"Am gestrigen Tag bei General Speidel in La Roche-Guyon. Die Fahrt war wegen der Zerstörung der Seine-Brücken umständlich. Wir fuhren gegen Mitternacht zurück. Auf diese Weise verpassten wir um eine Stunde das Eintreffen der ersten Meldungen über die Landung im Hauptquartier. Sie wurde am Morgen in Paris bekannt und überraschte viele, insbesondere auch Rommel, der gestern in La Roche-Guyon gefehlt hatte, da er nach Deutschland zum Geburtstag seiner Frau gefahren war. Das ist ein Schönheitsfehler in der Ouvertüre einer so großen Schlacht. Die ersten abgesprungenen Kräfte wurden nach Mitternacht festgestellt. Zahlreiche Flotten und mehrere tausend Flugzeuge traten bei den Operationen auf. Es handelt sich ohne Zweifel um den Beginn des großen Angriffs, der diesen Tag historisch machen wird."
Und Hitler? Der "Führer" weilt in Berchtesgaden und verschläft den Vormittag, nachdem er seine Untergebenen und Gäste, wie üblich, bis zum Morgengrauen mit Richard Wagner und endlosen Monologen traktiert hat. Seit 5.30 Uhr rollen die Angriffswellen gegen die Strände der Normandie, um 10.15 Uhr traut man sich endlich, Hitler zu wecken.
Im Morgenmantel empfängt er die Nachricht. Dann verstreichen entscheidende Stunden, der selbsternannte Oberbefehlshaber der Wehrmacht zögert, die Panzer in Marsch zu setzen. Am Nachmittag gibt er endlich, viel zu spät, den Befehl. Erst am späten Abend wird die Invasion in Deutschland bekanntgemacht:
"Mit dem Gongschlag: 22 Uhr und zwei Minuten. Der Kampf am Atlantik. In der vergangenen Nacht hat der Feind seinen seit langem vorbereiteten und von uns erwarteten Angriff auf Westeuropa begonnen. Unter dem Schutz massierter Bombenabwürfe und schweren Feuers der Schiffsartillerie führte der Feind seinen zwischen der Orne- und Vire-Mündung und am Ostteil der normannischen Halbinsel aus der Luft und von der See her gelandeten Kräften laufend Verstärkungen und auch Panzer zu. Rasch kamen überall die deutschen Gegenschläge. Beiderseits Cherbourg waren die feindlichen Luftlandetruppen bereits zerschlagen, bevor sie sich noch zum Kampf formieren konnten, und nur unter schweren Verlusten konnte der Feind einen Teil seiner Panzer an Land bringen. Der große Waffengang an der nordfranzösichen Küste hat somit begonnen. Er fand die deutschen Truppen überall bereit."
Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir
Als Ernst Jünger in der Nacht zum 6. Juni durch die Straßen von Paris fuhr, hätte er zwei französischen Schriftstellern begegnen können: Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Sie kommen gerade von einer Party, die sie für ihre Freunde veranstaltet haben. Es wurde getrunken, gesungen, gelacht, und Albert Camus hatte wie wild getanzt. In ihrer Autobiografe schreibt Simone de Beauvoir:
"Wir gingen zusammen mit Olga und Bost zur ersten Metro und begleiteten die beiden bis zum Montparnasse. Die Place de Rennes lag verlassen im fahlen Licht der Morgendämmerung. Plakate an der Bahnhofsmauer verkündeten, dass der Zugverkehr eingestellt sei. Was ging vor? Sartre und ich marschierten zur Rue de Seine; ich war zu müde, um mir irgendetwas vorzustellen, aber eine bizarre Angst saß mir in der Kehle. Ich schlief fünf oder sechs Stunden. Als ich erwachte, drang die Stimme eines Radios durch mein Fenster. Sie sagte lang erwartete, unglaubliche Dinge, ich sprang aus dem Bett. Die angloamerikanischen Truppen hatten in der Normandie Fuß gefasst. Alle Hausgenossen Camilles waren überzeugt, dass wir geheime Informationen gehabt hatten, dass wir in dieser Nacht die Landung feierten. Die Tage, die nun kamen, waren ein einziges Fest. Die Leute lachten einander zu, die Sonne strahlte – und wie fröhlich waren die Straßen. Mit Sartre, mit unseren Freunden trank ich auf der Terrasse des „Flore" frischen Turin-Gin und auf der Terrasse von "Rhumerie Martiniquaise" falschen Punsch. Wir bauten an der Zukunft und freuten uns."
Jean-Paul Sartre zeigt weniger Enthusiasmus für die aktuelle Politik. Er hat nur Sinn für sein neues Theaterstück "Bei geschlossenen Türen", das in diesen Tagen Premiere feiern soll. – Viele tausend Kilometer entfernt, im kalifornischen Exil, ist ein weiterer Dramatiker von Weltgeltung ebenfalls ganz auf seine Arbeit konzentriert. Am 6. Juni 1944 vollendet Bertolt Brecht den "Kaukasischen Kreidekreis". Dann geht er ins Kino. Einen Tag nach der Landung berichtet Brecht in seinem privaten "Journal":
"6. Juni 44: Ich kam mit Homolka und Karin aus dem Film „Memphis Belle" – der Flug einer Flying Fortress nach Wilhelmshaven – und saß schon wieder beim Schach, als Eisler telefonierte, die Invasion in Frankreich habe eingesetzt. Das Radio spie Nachrichten, ein Augenzeuge sprach schon von der Normandie aus. Barbara sagt, dass die Lehrerin für Social Science die Invasion nicht mit einem Wort berührt hätte, auch Steff hörte nahezu keine Äußerungen an der Universität. Winge berichtet, ein Mann hätte zu ihm gesagt: „Da regen sich nur die Fremden auf und die, die Verwandte drüben haben bei der Armee." Diese Haltung ist natürlich und hat etwas Freies an sich, wenn auch in der Hegelschen 'schlechten Form'."
Thomas Mann feiert am "D-Day" Geburtstag
In Brechts Nachbarschaft wird die Nachricht mit größerem Interesse aufgenommen. Der berühmteste Schriftsteller des deutschen Exils, Thomas Mann, feiert ausgerechnet am "D-Day" Geburtstag. Am Abend notiert er in sein Tagebuch:
"Pacific Palisades, Dienstag, den 6. Juni.
Mein 69. Geburtstag. Stand halb neun Uhr auf. Es war neblig-aufklärend. Wurde unten von K. und der Schwarzen, die sang, empfangen. Während K. mir ihre Geschenke zeigte, rief Mrs. Meyer aus Washington an, von der ich, bevor ich die Zeitung gesehen, erfuhr, dass die Invasion Frankreichs bei Caen, Calais, Le Havre begonnen hat. Eigentümliches Zusammentreffen. Beim Frühstück die Zeitungs- nachrichten. Die Meyer erklärte, befriedigende direkte Nachrichten aus dem Kriegs- ministerium zu haben. Spannung auf coordinierte Aktionen der Russen. Telephon mit den Franks. Man erwartet eine weitere Ansprache des Präsidenten."
"Ladies and Gentlemen, the president of the United States..."
Tags zuvor hat Roosevelt im Rundfunk den Einmarsch alliierter Truppen in Rom verkündet. Nun wendet sich der amerikanische Präsident erneut an sein Volk:
"My fellow Americans! Last night when I spoke to you about the fall of Rome I knew at that moment that troops of the United States and our allies were crossing the channel."
"Liebe Mitbürger. Gestern nacht, als ich zu Ihnen sprach, über den Fall von Rom, wusste ich in diesen Moment bereits, dass Truppen der Vereinigten Staaten und unserer Verbündeten den Kanal überquerten. Bis jetzt waren wir erfolgreich. Und so bitte ich Sie, in dieser kritischen Stunde, mit mir zu beten..."
"It has come to pass with success thus far. And so, in this poignant hour, I ask you to join with me in prayer..."
Eine Woche vor der Invasion hat Thomas Mann selbst im Radio gesprochen. Seit Herbst 1940 verfasst der Nobelpreisträger allmonatlich seine Aufrufe an die deutschen Hörer, die von der BBC gesendet werden. Am 29. Mai 1944 spricht er über die Psychologie des Krieges:
"Deutsche Hörer! Zu Anfang des Krieges, als die Engländer Deutschland mit 'leaflets'' mit kleinen Propaganda-Broschüren bombardierten, erzählte man sich die Geschichte, wie ein englischer Pilot mit der Meldung zurückgekommen sei, die Umstände hätten ihm keine Zeit gelassen, die Verschnürung zu lösen und seine 'leaflets' einzeln auszustreuen; er habe rasch das ganze Paket auf einmal hinunter- werfen müssen. 'For heaven's sake!' soll sein Vorgesetzter zu ihm gesagt haben. ‚Haben Sie nicht daran gedacht, dass Sie jemanden verletzten könnten?' – Über die Geschichte ist viel gelacht worden. Sie mag erfunden sein, aber sie ist charakteristisch für die Gemütsverfassung, in der die zivilisierten Völker, nach sechs Jahren des Appeasements, sechs Jahren des Zurückweichens, der Nachgiebigkeit, der Versuche, Hitler zu befrieden, in diesen Krieg gegangen sind. Widerwillig, seelisch so unvorbereitet wie materiell, noch ohne rechte Ahnung, was das eigentlich sei: der deutsche Krieg, der totale Krieg, sind sie in ihn hineingegangen. Und dann haben sie gelernt..."
Arbeit an "Doktor Faustus"
In dieser Zeit arbeitet Thomas Mann an seinem Roman "Doktor Faustus" – die Geschichte des Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Serenus Zeitblom heißt der eher furchtsame, brave Chronist, und in die Rekapitulation der tragischen Biographie Leverkühns, mischt der Erzähler aktuelle Beobachtungen und Reflexionen. Am 23. Mai 1943 setzt der Roman ein, an diesem Tag beginnt Thomas mit der Niederschrift. Im Juni 1944 befindet er sich im 33. Kapitel. Und die sensationelle Nachricht aus der Wirklichkeit diktiert ihm die Fiktion.
"Während ich treulich von Tag zu Tag, in stiller Dauer-Erregung, meiner biographischen Aufgabe gerecht zu werden, dem Intimen und Persönlichen eine würdige Gestalt zu geben suchte, habe ich geschehen lassen, was draußen geschah, und was der Zeit angehört, in der ich schreibe. Die Invasion Frankreichs, als Möglichkeit längst anerkannt, hat sich vollzogen, - eine mit vollkommener Umsicht vorbereitete technisch-militärische Leistung ersten oder überhaupt neuen Ranges, an der wir den Feind umso weniger hindern konnten, als wir nicht wagen durften, unsere Abwehrkräfte an dem einen Punkt der Landung zu versammeln, ungewiss, ob er nicht als einer unter anderen angesehen werden müsse und weitere Angriffe an unerratbaren Stellen vielleicht zu erwarten seien. Vergebens und verderblich der Argwohn: Dies war es. Und bald waren es der zu Strande gebrachten Truppen, Tanks, Geschütze und jederlei Bedarfe mehr, als wir wieder ins Meer zu werfen vermochten. Cherbourg, dessen Hafen, wie wir vertrauen dürfen, von deutscher Ingenieurkunst gründlich unbrauchbar gemacht worden, hat nach heroischen Radiogrammen des Kommandierenden Generals sowohl wie des Admirals an den Führer kapituliert, und seit Tagen schon tobt eine Schlacht, deren Streitgegenstand die normannische Stadt Caen ist."
"Die Kämpfe waren sehr wechselvoll und erbittert. Es sind die härtesten, die ich in diesem Krieg erlebt habe. Im unübersichtlichen Gelände der Normandie standen sich auf wenige Meter deutsche und amerikanische Fallschirmjäger in stundenlangem Nahkampf gegenüber. Obwohl nach wenigen Stunden die amerikanischen Fallschirmjäger durch von der See her gelandete Panzer unterstützt wurden, erreichte der Feind dem deutschen Fallschirmjäger gegenüber, den auch in diesem Augenblick kein anderer Stahl deckte als sein tapferes Kämpferherz, keines seiner bereits am ersten Tage weit gesteckten Ziele."
Die alliierte Führung hat den 30 Kilometer langen Küstenstreifen in fünf Landezonen eingeteilt. Im Abschnitt "Utah" und "Omaha" landen amerikanische Soldaten, in den Zonen "Gold", "Juno" und "Sword" greifen Briten und Kanadier an. Die gesamte Operation trägt den Codenamen „Overlord". Lionel Shapiro gehört zu den ersten Berichterstattern von der Küste der Normandie. In seinem Roman "The 6th of June" macht die Hauptfigur, der amerikanische Offizier Brad Parker, das Unternehmen vom Beginn der Planung an mit.
"Brad hörte von 'Overlord' das erste Mal im kalten Winter von Algier. In den kommenden Monaten sollte er das Wort in all seiner ehrfürchtigen Bedeutung kennen lernen und darauf reagieren wie ein Pilger von einst auf den Heiligen Gral, aber selbst das erste Mal, als die Bezeichnung nur ein unbekanntes Codewort in einer geheimen Meldung war, die routinemäßig seinen Schreibtisch passierte, war er augenblicklich fasziniert. Codenamen waren nichts Unübliches in diesem Winter in der G-3-Sektion des Alliierten-Hauptquartiers: Namen wie 'Operation Husky', die, wenn sie gut lief, die Amerikanische Siebte und die Britische Achte Armee nach Sizilien brachten, oder 'Baytown' und 'Avalanche', welche die weiter entfernt liegende Aussicht markierten, auf dem italienischen Festland zu landen. Aber 'Overlord' war etwas anderes. Es tauchte nie auf den üblichen Code-Listen auf und hatte nichts mit dem Mittelmeer zu tun. Soviel wusste er. Der Rest war aufregende Spekulation, denn selbst in der kleinen Gemeinschaft von Geheimnisträgern blieb 'Overlord' ein Rätsel. Wenn Brad das Wort studierte, schien es ihm, als würde es glühen. Es stand für etwas Großes, das vielleicht Größte, the big one. Und dieses Größte – davon träumte jeder Stabsoffizier – war nichts anderes als der unvermeidlich nötige Dolchstoß über den Kanal ins Herz von Hitlers Festung Europa. Wer immer sich den Codenamen ausgedacht haben mochte, dachte Brad, besaß einen feinen Sinn für die Bedeutung eines Wortes, mehr als für geheimdienstliche Sicherheit. Overlord! Es klang wie eine Trompetenfanfare!"
In einem Boot sitzt Ernest Hemingway
"Hier hart an uns vorbei heulen die Granaten der englischen Artillerie, sie beschießt den Dorfrand hinter unserem Rücken, wo man anscheinend Fahrzeugbewegungen erkannt hat. In der Talsohle vor uns sind die grauen Ruinen und zerfetzten Baumstümpfe eines total, bis auf das letzte Haus herunter gebrannten Dorfes zu sehen."
Um 3.30 Uhr beginnt der Feuerschlag. Tausende von Schiffsgeschützen beschießen die deutschen Befestigungsanlagen. In der Luft ist die gesamte Bomberflotte im Einsatz.
Noch warten die über 4000 Landungsboote im sicheren Schutz der Geleitschiffe. In einem Boot der siebten Angriffswelle vor "Omaha Beach" sitzt mitten unter durchnässten und frierenden G.I.s der weltberühmte Romancier Ernest Hemingway. Als Kriegs-Korrespondent hat er schon zuvor von vielen Fronten berichtet. Die Invasion sollte die Krönung für den Boxer, Stierkampfliebhaber und notorischen Macho sein.
Das alliierte Presse-Ministerium hatte jede Verantwortung abgelehnt. Den ersten Lande-Einheiten wurden wenig Überlebens-Chancen eingeräumt. Man rechnete mit 10.000 Toten, eine Zahl, die sich als realistisch erweisen sollte. Die Soldaten wissen, was sie erwartet, aber auch, wie historisch bedeutsam ihr Kampf sein wird. In einem britischen Landeboot zückt Major C.K.King eine Ausgabe von Shakespeares "Heinrich V.", laut liest er seinen Männern vor:
"Und wer in England nun zu Bette liegt, wird sich verfluchen, dass er nicht dabei war."
Ernest Hemingway sah das genauso.
"Wir näherten uns der Küste im Morgengrauen. Das Landungsboot war 36 Fuß lang und sah aus wie ein Sarg. Er nahm viel Wasser über, das in grünen Schauern auf die Stahlhelme der Soldaten prasselte, die Schulter an Schulter hockten, in der steifen, ungeschickten, ungemütlichen, einsamen Genossenschaft von Männern, die in die Schlacht gehen. Unter der Back des stählernen Boots lagen Kisten voll TNT, mit Gummischwimmwesten umwickelt, um in der Brandung zu schwimmen, und Bazookas in Haufen und Kisten voll Bazooka-Raketen, und alle diese Munitionspacken steckten in wasserdichten Plastikhüllen wie die College-Girls, wenn's regnet, und Schwimmwesten waren an ihnen befestigt. Voraus war die französische Küste zu sehen. Die Transportflotte mit ihren Masten, Ladebäumen und Kränen lag jetzt hinter uns, und überall auf dem Meer sah man die Landungsfahrzeuge vorankriechen, auf Frankreich zu. Von der Höhe der Woge aus sah man auch die geduckten Silhouetten der Kreuzer und die beiden großen Schlachtschiffe, die quer vor der Küste lagen. Man sah das weiß-glühende Mündungsfeuer ihrer Geschütze und den braunen Rauch, den sie ausstießen, gegen den Wind, der ihn beiseite wischte."
"Brad saß ganz vorne im Landungsboot, mit dem Rücken an der Rampe. Er fühlte, wie die Wellen wütend dagegen schlugen, als ob sie allein schon das kleine Boot aufhalten, versenken wollten. Er schaute auf seine Männer, die sich im Boot zusammendrängten. Ihre Gesichter waren finster, hart und furchtbar bleich. Es waren Männer, die ihre Muskeln und Waffen einzusetzen wussten. An Land. Hier auf See waren sie hilflos, und immer wieder schauten sie zu dem jungen Unterleutnant, der das Boot steuerte. Würde er sie an den Strand bringen? Einigen wurde schlecht. Brad hörte sie kotzen, in der kurzen Stille, wenn der Wind neu Luft zu holen schien, bevor die Gischt sie wieder überschäumte."
"Als wir die Landerampe herunter hatten, sah ich drei unserer Panzer den Strand heraufkommen. Sie gingen langsam vor, bewegten sich kaum. Die Deutschen ließen sie das freie Strandstück in der Einmündung des Tals passieren. Es war flach wie ein Brett, sie hatten ein tadelloses Schussfeld, und dann sah ich eine kleine Wasser- fontäne, eben vor dem ersten Panzer, und dann kam Rauch aus dem Panzer, auf der anderen Seite, und zwei Männer sprangen aus dem Turm und landeten auf Knien und Händen auf dem steinigen Strand. Sie waren so nahe, dass ich ihre Gesichter sehen konnte. Die Zerstörer waren inzwischen fast bis an den Strand herangekommen und jagten mit ihren 12,5cm-Geschützen einen Maschinengewehr- bunker nach dem anderen in die Luft. Ich sah ein Stück von einem Deutschen – drei Fuß lang, daran ein Arm – durch die Luft fliegen mit der Fontäne einer krepierenden Granate."
"Entsetzte Augen in einem aschenfarbenen Gesicht"
"Brad hatte den Schützengraben fast erreicht, es waren nur noch drei oder vier Yards, als er getroffen wurde. Er konnte das Gesicht des Deutschen sehen, der geschossen hatte, die jungen, entsetzten Augen in einem aschenfarbenen Gesicht unter einem Helm. Und für einen klaren und einzigen Moment herrschte der Krieg nur zwischen ihm und dem jungen Deutschen. Es war ein Augenblick jenseits von allem, dem Gewehrfeuer, dem tierischen Gebrüll, der Hysterie des Angriffs. Er war getroffen worden. Er wusste, dass er getroffen worden war. Die Kugel riss ihn zurück, als ob er einen gewaltigen Schlag in den Bauch erhalten hätte. Aber er fühlte keinen Schmerz. Sein Körper vibrierte unter dem Rückstoß seiner Sten-Maschinenpistole, die wie von allein unablässig feuerte. Er verspürte ein seltsames Hochgefühl, ich bin getroffen, aber es tut nicht weh, ich bin stärker, härter als der andere, ich werde ihn töten. Er sah, wie die Kugeln aus seiner Sten den Hals und das Kinn des Feindes aufrissen, und er sah, wie der Mund des Jungen sich öffnete, in einem Ausdruck – von äußerster Empörung! Brad dachte, wie merkwürdig, er stirbt doch gerade. Aber dann war die Sekunde vorbei, die Realität kam zurück, das Rasen der automatischen Waffen überall, die Schreie."
"Am Ende hatten wir von den vierundzwanzig Fahrzeugen sechs verloren. Es war ein Frontalangriff gewesen, bei hellem Tageslicht und an einem Küstenabschnitt, der vermint und mit allen Hindernissen gespickt war, die sich ein militärisches Gehirn nur ausdenken konnte. Der Strand war so hartnäckig und intelligent verteidigt worden, wie Soldaten überhaupt etwas verteidigen können. Aber wir hatten die Küste genommen. – Es gibt vieles, was ich ausgelassen habe. Der wirkliche Krieg ist anders als auf dem Papier – davon zu schweigen, dass er sich anders liest, als er aussieht. Aber wenn Sie wissen wollen, wie es auf einem Landungsboot zuging, als wir den Strand von Fox Green und Easy Red einnahmen und es D-Day war, der 6. Juni 1944, so kommt dieser Bericht der Wahrheit so nahe, wie ich ihr nahe kommen kann."
"Aus dem Führerhauptquartier, den 9. Juni. Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: An der Küste der Normandie gelang dem Gegner, wenn auch unter hohen Verlusten durch die Angriffe der deutschen Seestreitkräfte und der Luftwaffe, die Verstärkung seines Landekopfes. Unsere aus dem Raum von Caen zum Gegenangriff angetretenen Panzerspitzen stehen nunmehr südöstlich Bayeux in heftigem Kampf. Aus dem Brückenkopf San Mére Église nach Norden und Süden vorstoßender Feind konnte gegen unsere hartnäckig Widerstand leistenden Truppen nur wenig Boden gewinnen."
Am selben Tag zieht Thomas Mann eine eigene Bilanz der Ereignisse. In einem Brief an die Psychoanalytikerin und Verehrerin seines Werks, Caroline Newton, schreibt er:
"Liebe Miss Caroline, Sie haben mich, oder richtiger: uns ja mit köstlichen Gaben überschüttet. Kurz gefasst muss mein Dank – mein herzlicher Dank! – sein, denn die Leute haben mir am 6. viel zu tun gegeben. Hochdramatisch akzentuiert war der Tag, - durch den offenbar glücklichen Beginn dessen, woran man kaum zu glauben gewagt hatte, und was doch kommen musste. Gewiss war der Anfang nicht das Leichteste vom Ganzen, und es ist viel, dass er geglückt ist. Aber ein Anfang ist es eben doch nur, und ein Riesenstück Arbeit liegt vor den Europa-Stürmern, - die ja freilich auch Riesen sind. Wir waren ohne Kinder und Enkel an dem Tag und hatten nur einige gute Freunde zum Abendessen. Erika ist in England ebenfalls. Wenn sie nicht mit im ersten Invasions-Bomber war, so kann das nur daran liegen, dass Damen nicht zugelassen waren."
Die Reporter Hemingway und Shapiro waren an "Omaha Beach" und "Juno" gelandet; im südlichsten Abschnitt „Utah" liegt der einfache Gefreite Jerome D.Salinger im Sand. Der spätere Verfasser von "Der Fänger im Roggen" wird nur ein einziges Mal in seinem Leben von diesem Tag erzählen, leicht angetrunken, auf einem Veteranentreffen; sonst hätte die Welt nie etwas davon erfahren. Die deutschen See- und Luftstreitkräfte, von denen die deutschen Nachrichen berichten, können die Landung nicht verhindern; sie sind de facto nicht vorhanden. Nur wenige leichte Torpedo-Boote kommen zum Einsatz; in den frühen Morgenstunden der Invasion sind genau zwei deutsche Jagdflugzeuge am Himmel. An allen Küstenabschnitten gelingt es, Brückenköpfe zu bilden und teilweise bis zu zehn Kilometer tief ins Hinterland vorzustoßen. Der heftigste Widerstand schlägt den amerikanischen Angreifern an "Utah" und "Omaha" entgegen.
Anlass für satirisches Gedicht in der "Blechtrommel"
Hier sind die Verteidigungsanlagen am besten ausgebaut. Minenfelder, Sperrhöcker, Stacheldraht und in den Sand getriebene Balken machen die Landung von Panzern und Fahrzeugen zunächst fast völlig unmöglich. Diese Balken heißen im Jargon der deutschen Landser "Rommelspargel". Sie liefern, bald 15 Jahre später, dem Schriftsteller Günter Grass den Anlass für ein satirisches Gedicht in seinem Roman "Die Blechtrommel". Im Sommer 1944 ist der Held Oskar Matzerath Mitglied in Meister Bebras Fronttheatertruppe. Man gastiert in Frankreich. Während eines Picknicks auf den Betonbunkern des „Atlantikwalls" wird spontan gedichtet. Künstlerin Kitty sagt die Verse auf:
"Noch waffenstarrend, mit getarnten Zähnen,
Beton einstampfend, Rommelspargel,
schon unterwegs ins Land Pantoffel,
wo jeden Sonntag Salzkartoffel
und freitags Fisch, auch Spiegeleier:
wir nähern uns dem Biedermeier!"
(Trommelwirbel)
"Noch schlafen wir in Drahtverhauen,
verbuddeln in Latrinen Mine
und träumen drauf von Gartenlauben,
von Kegelbrüdern, Turteltauben,
vom Kühlschrank, formschön Wasserspeier:
wir nähern uns dem Biedermeier!"
(Trommelwirbel)
"Muss mancher auch ins Gras noch beißen,
muss manch ein Mutterherz noch reißen,
trägt auch der Tod noch Fallschirmseide,
knüpft er doch Rüschlein seinem Kleide,
zupft Federn sich vom Pfau und Reiher:
wir nähern uns dem Biedermeier!"
Für Oskar und geht der Tag tragisch aus
Anderntags ist der Spaß vorbei, wird das Künstlervölkchen vom Angriff der Alliierten überrascht. Für Oskar und seine Zwergenfreundin Roswitha geht der Tag tragisch aus:
"Nach der Vorstellung gaben die Stabsoffiziere des Regimentes, die in dem Schloss Quartier genommen hatten, noch eine Party. Während Bebra, Kitty und Felix blieben, verabschiedeten die Raguna und Oska sich unauffällig, gingen zu Bett, schliefen nach abwechslungsreichem Tag schnell ein und wurden erst um fünf Uhr früh durch die beginnende Invasion geweckt. Was soll ich Ihnen viel darüber berichten? In unserem Abschnitt, nahe der Ornemündung, landeten Kanadier. Bavent musste geräumt werden. Wir hatten schon unser Gepäck verstaut. Mit dem Regimentsstab sollten wir zurückverlegt werden. Im Schlosshof hielt eine motorisierte, dampfende Feldküche. Roswitha bat mich, ihr einen Becher Kaffee zu holen, da sie noch nicht gefrühstückt hatte. Etwas nervös und besorgt, ich könnte den Anschluss an den Lastwagen verfehlen, weigerte ich mich und war auch eine Spur grob mit ihr. Da sprang sie selber vom Wagen, lief mit dem Kochgeschirr in Stöckelschuhen auf die Feldküche zu und erreichte den heißen Morgenkaffee gleichzeitig mit einer dort einschlagenden Schiffsgranate."
"We tried again and again to prevent this war..."
"Immer wieder haben wir versucht, diesen Krieg zu verhindern", hatte der britische Premierminister Winston Churchill im November 1939 gesagt.
"Aber jetzt sind wir im Krieg, und wir werden Krieg führen, und wir werden ihn solange führen, bis die andere Seite genug davon hat."
Zumindest jetzt kann Winston Churchill triumphieren. Als passionierter und bekannter Schriftsteller wird er ebenfalls über die Invasion schreiben, in seinem Buch "Der Zweite Weltkrieg", für das er 1953 den Nobelpreis für Literatur erhält. Bereits sechs Tage nach der Landung besucht Churchill den Kommandierenden der Landetruppen, General Montgomery, auf dem Festland.
"Als wir aus dem Landungsboot kletterten, nahm uns Montgomery lächelnd und zuversichtlich in Empfang. Seine Armee hatte sich bereits zehn bis dreizehn Kilometer ins Land hineingeschoben. Geschossen wurde wenig, die Front war ruhig, das Wetter strahlend. Montgomerys Hauptquartier befand sich etwa acht Kilometer landeinwärts in einem von Wiesen und Teichen umgebenen Schloss. In einem dem Feind zugekehrten Zelt nahmen wir den Lunch ein. Der General war in überschäumender Laune. Ich fragte ihn, wie weit wir von der Frontlinie entfernt seien. Er antwortete, ungefährt fünf Kilometer. Ich erkundigte mich, ob er eine zusammenhängende Frontlinie habe. Er sagte nein. „Was kann dann die deutschen Panzer hindern, vorzustoßen und unseren Lunch zu unterbrechen?" Er glaube nicht, dass sie kommen würden, brummte er. Vom Stab erfuhr ich, dass das Schloss in der vorangegangenen Nacht schwer bombardiert worden war, was die zahlreichen Bombentrichter rundum bestätigten. Ich sagte Montgomery, er setze sich einer zu großen Gefahr aus, wenn er ein solches Verhalten zur Gewohnheit mache. Zwei Tage später verlegte Montgomery sein Hauptquartier tatsächlich, aber erst nachdem er und sein Stab eine weitere Ladung abbekommen hatten."
"Wir haben nicht die Absicht, die Dinge so auszulegen, als stelle die geglückte erste Anlandung unserer Gegner sozusagen ein erwünschtes Ereignis dar. So liegen die Dinge nicht. Aber andererseits besteht der sichere Eindruck, dass auch der Gegner weit mehr von seinem ersten großen Invasionsunternehmen erwartet hat und auch innerhalb des beabsichtigten Ablaufs der Gesamtoperationen mehr erwarten musste, wennanders die Höhe des Einsatzes und der Verluste ihre Rechtfertigung finden sollte. So kann das gesamte Unternehmen leicht für ihn den Charakter eines halben Erfolges annehmen, mit allen schwerwiegenden Konsequenzen eines solchen, weil Fortführung und Beschränkung in gleicher Weise Gefahren in sich bergen."
Stalins Gratulation täuscht über die tiefe Verstimmung hinweg
Am 11. Juni vereinigen sich die alliierten Brückenköpfe zu einer geschlossen zusammenhängenden Front, die Invasion ist endgültig vollzogen. Mehr als eine halbe Million Soldaten und 90.000 Fahrzeuge stehen auf französischem Boden. Aus Moskau telegrafiert Generalissimus Josef Stalin an Winston Churchill:
"Verehrter Premier! Es ist offenbar, dass die in grandiosem Umfang geplante Landung ein voller Erfolg geworden ist. Wie man allgemein weiß, ist Napoleon zu seiner Zeit in seinem Plan, den Kanal zu bezwingen, schmählich gescheitert. Der hysterische Hitler, der zwei Jahre lang davon prahlte, konnte sich nicht entschließen, auch nur den geringsten Versuch zur Ausführung dieser Drohung zu machen. Nur unseren Verbündeten ist es gelungen, den grandiosen Plan einer Kanalüberquerung in Ehren zu verwirklichen. Die Geschichte wird diese Tat als eine Leistung ersten Ranges festhalten."
Stalins Gratulation täuscht über die tiefe Verstimmung hinweg, die in den Jahren zuvor zwischen Moskau und London wegen der Invasion geherrscht hatte. Auf den alliierten Konferenzen von Casablanca und Teheran hatte Stalin die Verbündeten immer wieder zur Errichtung einer zweiten Front gedrängt. Vor allem Churchill zögerte den Termin hinaus. Er dachte strategisch, über das Kriegsende hinaus. An einem zu frühen Zusammenbruch der Deutschen im Osten war ihm nicht gelegen, er wollte die Rote Armee so weit wie möglich aus Europa heraushalten. Zwar waren die Deutschen nach der Niederlage von Stalingrad permanent auf dem Rückzug, doch immer noch hielt die Wehrmacht riesige Gebiete Russlands besetzt. Die sowjetischen Militärs fühlten sich von Amerikanern und Briten im Stich gelassen. Der Romancier Ilja Ehrenburg, der während des Krieges als Zeitungskorrespondent Frontberichte und Kommentare schrieb, erinnert sich in seinen Memoiren an jene gespannte Atmosphäre.
"Am 6. November 1943 erklärte Stalin, die Kämpfe in Italien, ebenso wie die Luftangriffe auf deutsche Städte und die Lieferung von Waffen und Rohstoffen an die Sowjetunion seien „immerhin auch so etwas wie eine zweite Front". Ich wusste indessen, dass die Landung der Verbündeten in Sizilien und Süditalien keineswegs dem entsprach, was 1942 versprochen worden war. Als die Nachricht eintraf, dass die Zweite Front abermals um ein Jahr verschoben sei, wurden Litwinow aus Washington und Maiski aus London abberufen. Noch im Sommer kehrte Maiski zurück. Seine Berichte erbitterten mich. Er sprach begeistert von der Haltung der Londoner Bevölkerung während der schweren Bombardements, erzählte dann aber, die Alliierten seien der Ansicht, für eine Zweite Front noch immer nicht genügend gerüstet zu sein. Man sehe deutlich, dass sie an einer schnellen Niederwerfung Hitlers nicht sehr interessiert seien, aus Angst vor der Roten Armee. [...] Mir fällt ein Scherz des englischen Korrespondenten Alexander Werth ein, der mich manchmal besuchte. Mein Hund Bouzou, ein Scotch-Terrier, hatte zu Beginn des Krieges durch eine Detonation einen Schock erlitten und infolgedessen tödliche Angst vor den Siegessalutsalven; er glaubte, der Donner der Geschütze bringe stets Unangenehmes mit sich; sowie das Pausenzeichen im Radio ertönte, begann er jämmerlich zu jaulen. Als Werth einmal einer solchen Szene beiwohnte, meinte er sarkastisch: „Es ist tatsächlich ein englischer Hund – er fürchtet die sowjetischen Sieger."
Noch in der jüngsten russischen Literatur findet sich dieser Reflex. Der Schriftsteller Viktor Jerofejew beschreibt in seinem, im Frühjahr 2004 erschienenen autobiographischen Roman "Der gute Stalin" die Kriegs-Odyssee seines Vaters, der als Dolmetscher Stalins quer durch Europa reist.
"Nach Absprache mit den Amerikanern begab sich Vater zum Luftwaffenstützpunkt der USA in Südwales. Von dort sollte er nach Casablanca, dann nach Kairo und schließlich nach Moskau gebracht werden. Die tapferen amerikanischen Piloten flogen immer leicht angeheitert. Die zweite Front war errichtet, trotz Churchills Zögern. Das Schlimmste schien man überstanden zu haben. An einem frühen Herbstmorgen setzte man Vater in einer schweren Bomber. Er machte es sich in seinem Metallsitz bequem, deckte sich mit einem Plaid zu und begann zu dösen: der Flug nach Marokko würde mindestens sechs Stunden dauern. Er schläft, und plötzlich spürt er, dass das Flugzeug landet. Vater fragt den Kopiloten, was los sei. „Wir haben Befehl, in Frankreich zu landen." Vater blickte aus dem Fenster. Überall die Spuren heftigster Kämpfe. Unter der Tragfläche lag eine große verbrannte Stadt der Normandie. Das war Caen."
Infanterist Heinrich Böll
An der fernen Ostfront empfängt ein späterer deutscher Nobelpreisträger die Nachricht von der Landung der Alliierten. Seit fünf Jahren, vom ersten Tag des Krieges an, marschiert der Infanterist Heinrich Böll durch den Schrecken. Er wird schwer verwundet und kommt nur knapp mit dem Leben davon. Jetzt keimt Hoffnung. Sehnsüchtig schreibt er gleich am 7. Juni aus einem ungarischen Lazarett an seine Frau Annemarie.
"Gestern Abend erfuhren wir alle mit großer Erregung und Erwartung von der Invasion im Westen; ach, wie gerne möchte ich dort sein, es muss doch schöner sein, einem Feind wie dem Engländer gegenüberzustehen als dieser Finsternis und dem düsteren Schrecken der Russen; und es ist auch nicht so unendlich weit von Dir fort. [...] Das ist ein unglaublich wichtiges Ereignis, diese Invasion, das kann wirklich zur Entscheidung des Krieges noch in diesem Jahr führen; wäre es nicht toll, wenn uns endlich einmal ein Zeichen vom Beginn des Endes leuchten würde; ach, dieser wahnsinnige, verbrecherische Krieg muss bald zu Ende gehen!"
Für alle Gegner und Verfolgten des Nazi-Regimes bedeutet die Invasion die Aussicht auf ein rettendes Ende. In Dresden wartet deprimiert der Romanist Victor Klemperer. Als Jude muss der über 60-jährige Gelehrte niederste Zwangsarbeit leisten, ständig droht die Deportation. Seine erst 1995 veröffentlichten Tagebücher sind ein erschütterndes Dokument der Verzweiflung.
"8. Juni, Donnerstag gegen Abend. Nun halten sich die Engländer schon drei Tage und stehen bei oder in Caen und Bayeux; die eigentliche Landung also ist geglückt. Aber wird es weitergehen und in welchem Tempo? Ich kann nichts mehr hoffen, es ist mir fast unvorstellbar, das Ende dieser Tortur, dieser Sklavenjahre zu erleben. Bis zum Dienstag hieß es: Wahrscheinlich landen sie nicht, sie haben Zeit, sie haben dies Opfer nicht nötig. Oder wenn sie kommen, dann wohl nicht gerade am Atlantikwall. Viel wahrscheinlicher in Dänemark, in Spanien, in Südfrankreich, auf dem Balkan... Seit Dienstag beweist man, dass sie kommen MUSSTEN, und dass sie gerade am Atlantikwall kommen mussten. Immer findet man hinterher die triftigsten Gründe für die Verwirklichung der verwirklichten Möglichkeit."
"Aus dem normannischen Kampfraum, wo gestern wieder ein Großangriff der Anglo-Amerikaner auf der gesamten Frontlänge gegen die deutschen Stellungen brandete, meldet sich nun der Kriegsberichter Heinz Rieck: ‚Hinter allen im Westen gegen den Feind kämpfenden Verbänden, gleich, ob es nun die Luftwaffe, die Marine oder vor allem die Truppen des Heeres waren, liegt eine Woche äußerster Belastungen, Proben und unvorstellbar harter Kämpfe. Neben örtlich geführten Angriffen im Raum Caen, neben Artillerie-Duellen und Frontbegradigungen kam es bis bis gestern, als der Kampf mit Flammenwerfer-Panzern auflebte, zu keinen größeren weittragenden Kämpfen, wenn auch hier das Warten auf den Feind, das Überstehen aller Feuerschläge, hinter denen stets der Beginn eines Großangriffs stehen kann, an den Nerven eines jeden eingesetzten Soldaten zehrte."
Zu diesem Zeitpunkt befindet sich auch der Technical Sergeant Stefan Heym an der Küste der Normandie. Im Pressekorps der 12. amerikanischen Armee ist er für Feindaufklärung zuständig, er verfasst Flugblätter und Reden, die über Lautsprecher die deutschen Soldaten zur Aufgabe bewegen sollen. Daneben arbeitet er an einem der eindrucks- vollsten deutschen Romane über den Krieg. Es ist ein weit gespanntes Epos von über 800 Seiten, das nach der Landung in der Normandie einsetzt, die Befreiung Frankreichs beschreibt, die Schicksale von Amerikanern und Deutschen gleichermaßen schildert und bis zur Eroberung Deutschlands reicht. Stefan Heym, der 1933 aus Deutschland floh und in Chicago studierte, schreibt sein Buch auf englisch: "The Crusaders" erscheint 1948 in New York, zwei Jahre später in der DDR auf deutsch unter dem Titel "Kreuzfahrer von heute". Die westdeutsche Ausgabe heißt "Der bittere Lorbeer".
"Das Gras, dieses saftige, weiche, üppige Gras! Es tut gut, in ihm zu liegen und sich lang auszustrecken, so dass es über einem zusammenschlägt. Vom Kanal her fährt der Wind über das Gras, von den Brückenköpfen am Strand, die noch immer die Trümmer der Invasion bedecken – Ausrüstungsgegenstände, die die Männer im Kampf von sich warfen, Bruchstücke deutscher Geschütze, zerschmetterte und verbogene Fahrzeuge. Zuweilen war es Sergeant Bing, als sei im Wind noch jener schwere, süßliche Leichengeruch zu spüren. Aber das war ja unmöglich – die Toten waren in den Dünen jenseits der Landungsstellen „Utah" und „Omaha" begraben. Der Himmel war blau. Er hatte nicht die Tiefe des Himmels über England, den er, bevor die Invasion einsetzte, gesehen hatte; er war anders. Es war ein Festlandshimmel. Nicht eine Wolke in diesem von Licht erfüllten Himmel. Wie ein Insekt kroch ein Beobachtungsflugzeug über den Himmel. Sein schwaches Dröhnen verlor sich in der Höhe. Nur dieses Flugzeug – sonst war Friede."
"48 Salven aus 48 Geschützen" heißt das erste Kapitel, in dem sich ein patriotischer General zum amerikanischen Unabhängigkeitstag etwas Besonderes ausdenkt. Über den deutschen Linien soll es an diesem Datum keine Granaten, sondern friedliche Flugblätter regnen. Diese Aktion hat es tatsächlich gegeben. Stefan Heym hat selbst das Flugblatt dazu entworfen und geschickt in seinen Roman eingebaut.
"Salut zum vierten Juli! Unsere Kanonen haben gesprochen. Das ist die Sprache Amerikas am 4. Juli 1944. Der 4. Juli ist unser Nationalfeiertag. Am 4. Juli 1776 wurden die Vereinigten Staaten als Nation geboren – eine Nation von freien Menschen...."
"Wofür kämpft Ihr?"
"... gleich vor dem Gesetz und willens, sich selbst zu regieren – las Major Dehn laut vor - Für diese Rechte und Freiheiten kämpfen wir heute... Wo immer die Würde des Menschen verletzt wird, empfinden wir es als Verletzung von uns selbst. Wo immer Menschen unterdrückt werden und leiden, sind wir auch betroffen. Weil unsere Nation so geartet ist, sind wir in Europa gelandet. Kein Tyrann soll sich unterfangen, seinen Willen einem Volke, Europa oder der ganzen Welt aufzuzwingen... Dehn las ohne Ausdruck, die Worte kamen fast zu glatt. „Gib mir mal das Ding", sagte Pettinger. Er überflog es. Er war wütend – das war eben die verdammte Unordnung eines Rückzuges. „Und willst du mir nun etwa erzählen, dass du das traurige Gewäsch da glaubst?" „Nein!" entgegnete Dehn. „Natürlich glaube ich kein Wort. Aber darum geht es nicht. Sie werden uns nicht bekehren. Wenn man aber so davonrennen muss wie wir, fragt man sich: Wie kommt es, dass diese Burschen so stark sind? Sie haben die materielle Überlegenheit. Uns wird gesagt, wir seien ihnen dafür moralisch überlegen: wir kämpfen besser, weil wir für eine große Idee kämpfen. Das ist doch reiner Quatsch..."
"... wofür kämpft Ihr? Um einen verlorenen Krieg zu verlängern, einen Krieg, der Europa vernichtet, einen Krieg, der euch selbst vernichtet. Fünf lange Jahre habt ihr gekämpft. Millionen sind in Russland gefallen, und täglich nähern sich die Russen der deutschen Grenze. Die Front im Westen rollt donnernd vorwärts. Wenn ihr euch noch retten wollt, wenn ihr Deutschland noch retten wollt, gibt es nur einen Ausweg: SCHLUSS MACHEN !"
Stefan Heym wird für seine militärischen Verdienste mit dem Bronze Medal Star ausgezeichnet. Und die Russen nähern sich tatsächlich. Am 22. Juni, zwei Wochen nach der Invasion, treten 200 Divisionen der Roten Armee zur Offensive an, in fünffacher Übermacht. Überall brechen nun die deutschen Fronten zusammen.
Jetzt beginnt das Ende. Auch Serenus Zeitblom hat die Nachrichten gehört. In Kalifornien lässt Thomas Mann seinen ängstlichen Helden um Deutschland zittern.
"Kein Halten mehr! Seele, denk es nicht aus! Wage nicht, zu ermessen, was es heißen würde, wenn in unserem extremen, durchaus einmalig-furchtbar gelagerten Fall die Dämme brächen und kein Halt mehr gäbe gegen den unermesslichen Hass, den wir unter den Völkern ringsum gegen uns zu entfachen gewusst haben. Zwar ist durch die Zerstörung unserer Städte aus der Luft auch Deutschland längst zum Kriegsschauplatz geworden; doch bleibt der Gedanke, es könnte im eigentlichen Sinne dazu werden, uns unfassbar und unzulässig, und unsere Propaganda hat eine seltsame Art, den Feind vor der Verletzung unseres Bodens, des heiligen deutschen Bodens, wie vor einer grausen Untat zu warnen. Der heilige deutsche Boden! Als ob noch irgend etwas an ihm heilig, als ob er nicht durch ein Unmaß von Rechtsbeleidigung längst über und über entweiht wäre und nicht moralisch wie tatsächlich der Gewalt, dem Strafgericht offenläge. Es komme! Nichts anderes bleibt mehr zu hoffen, zu wollen, zu wünschen. [...] Ein einsamer Mann faltet seine Hände und spricht: Gott sei eurer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland."