Krankheit ist Freiheit

Von Stefan Keim · 15.09.2007
Juli Zeh begibt sich auf Orwells Spuren: Die Autorin, sonst eher durch Prosa bekannt, zeigt in ihrem ersten Theaterstück eine nahe Zukunft, in der eine Gesundheitsdiktatur mittels totaler Überwachung durchgesetzt wird. Die Hauptfigur, eine kritische Biologin, wird zur unfreiwilligen Revolutionärin.
Wer eine Zigarette raucht, bekommt zwei Jahre auf Bewährung. In der nahen deutschen Zukunft herrscht eine Diktatur der Gesundheit. Alle medizinischen Werte eines Menschen werden elektronisch erfasst, jeder Bürger muss Pflichtsport leisten und Berichte abliefern, ob er gut geschlafen hat. Die Regierung nennt sich "die Essenz". Auf den ersten Blick erinnert einiges in Juli Zehs Theaterstück "Corpus delicti" an klassisch-kritische Science-Fiction-Szenarien von Huxley, Orwell oder Bradbury.

Doch das Regime gibt sich einen menschlichen Anstrich. Als sich die Biologin Mia Holl ein paar Unregelmäßigkeiten leistet, wird sie erst nur zu einem Gespräch gebeten. Schließlich hat sich gerade ihr Bruder im Gefängnis umgebracht, der laut DNA-Beweisen einen Mord begangen haben soll, die Tat aber nicht zugegeben hat. Dieser Moritz war ein Querdenker, einer, der sich der Natur aussetzte, das aseptische System durchbrach.

Mia hielt ihn erst für einen Spinner, doch nun nagen die Zweifel in ihr. Schließlich nimmt sie den offenen Kampf auf, betrachtet Krankheit als Freiheit, stellt "die Essenz" in Frage. Plötzlich leben die Mechanismen der Inquisition wieder auf, Mia Holl wird als Hexe denunziert und gefoltert. "Das Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur", sagt die junge Frau.

Juli Zeh ist kein Theatertier. Sie vermengt Dialoge mit Regieanweisungsprosa, ist verliebt in die eigenen Formulierungskünste, legt ihren Figuren manchmal überdeutliche Thesen in den Mund. Aber die 33-Jährige, die gerade ihren dritten Roman "Schilf" veröffentlicht hat und sich in fast allen verfügbaren Medien zu fast allen verfügbaren Themen äußert, hat bei der Ruhrtriennale eine Regisseurin gefunden, die aus ihrem Stück die besten Seiten heraus holt.

Anja Gronau hat sich aus der Berliner Off-Szene, wo sie zum Beispiel eine wunderbare "Trilogie der klassischen Mädchen" (Käthe, Johanna, Grete) im Theater unterm Dach inszeniert hat, in die großen Häuser vorgearbeitet. Sie kann dichte Szenen aus dem Nichts entstehen lassen, Schauspieler in großer Konzentration blühen lassen.

Juli Zeh, die studierte Juristin ist, hat ihrem Stück den Rahmen einer Gerichtsverhandlung gegeben. Zwischen die unverputzten Backsteinwände des Maschinenhauses der Zeche Carl in Essen hat Ausstatterin Sabine Kohlstedt ein Tribunal mit steilen Sitzreihen für die Zuschauer gebaut. Eine Videowand zeigt die Datenfiles der vor dem Gericht stehenden Personen.

Anne Ratte-Polle spielt Mia Holl als intelligente, selbstbewusste Frau, die zunächst irritiert ist und dann immer mehr in die Unsicherheit stürzt. Ihr Weltbild wankt, sie bekommt Angst, möchte eigentlich nur noch ihre Ruhe haben, doch es ist zu spät. Als sie das erkennt, wird sie zur leidenschaftlichen Freiheitskämpferin, die bereit ist, bis zur Selbstzerstörung zu gehen.

Begleitet wird sie von einer geisterhaften Erscheinung, die man in der Aufführung als Gespenst ihres Bruders wahr nimmt, von Juli Zeh allerdings als Doppelexistenz erdacht ist, ein Zwischenwesen aus dem toten Moritz und einer "idealen Geliebten". Christoph Luser schüttelt diese verkopfte Konstruktion einfach ab und gibt dem Schattenwesen eine starke vitale Präsenz.

Alle sechs Schauspieler zeigen mehrschichtige Figuren, deren erstem Anschein man nicht trauen darf. Mias Gegenspieler ist ein Journalist, der seinen Namen Heinrich Kramer mit dem Dominikanermönch und Inquisitor teilt, der im 15. Jahrhundert den berüchtigten "Hexenhammer" verfasst hat. Vivien Mahler spielt ihn als seltsam geschlechtsloses Wesen, zur Bestialität fähig in der Überzeugung, das Richtige zu tun und der Menschheit zu dienen.

Juli Zehs belletristischer Ansatz, für das Theater zu schreiben, stellt kein Problem dar, weil ohnehin die meisten Bühnen Romanadaptionen in die Spielpläne nehmen. Anja Gronau hat die Souveränität, mit deutlichen Strichen und präziser Schauspielerführung zum Kern der Charaktere vorzudringen und eine ebenso mitreißende wie satirische Geschichte zu erzählen.