Krankenkassen als Sparkassen?

Jürgen Graalmann im Gespräch mit Martin Steinhage · 18.05.2013
Krankenkassen und Gesundheitsfonds haben Überschüsse von inzwischen rund 30 Milliarden Euro angesammelt. Der Chef des AOK-Bundesverbands, Jürgen Graalmann, erklärt, was mit diesen Rücklagen geschehen soll - und warum es keine Rückzahlungen geben wird.
Deutschlandradio Kultur: Mein Gast ist heute Jürgen Graalmann, der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands, man könnte auch sagen, der AOK-Chef. Mit ihm will ich in den folgenden 25 Minuten über Gesundheitspolitik, vor allem aus Sicht der Versicherten sprechen. - Hallo, Herr Graalmann, ich grüße Sie.

Jürgen Graalmann: Herr Steinhage, guten Tag.

Deutschlandradio Kultur: Krankenkassen und Gesundheitsfonds haben Überschüsse in Höhe von – es heißt – rund 30 Mrd. Euro angesammelt. Diese Rücklagen stammen von den Versicherten, von deren Geldern. Warum bekommen sie das Geld nicht zurück?

Jürgen Graalmann: Sie haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, Herr Steinhage, das Geld gehört den Versicherten, gehört den Beitragszahlern. Und das Geld muss auch wieder zurück zu den Versicherten und zu den Beitragszahlern. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass wir diese Überschüsse, die wir haben, die wir insgesamt ja durchaus als sehr erfreuliche Situation bezeichnen dürfen, zurückgeben. Wenn man sich einige Jahre zurückerinnert, haben wir über Defizite in der Gesetzlichen Krankenversicherung gesprochen, das ist noch gar nicht so lange her. Von daher, glaube ich, sind alle froh, dass wir jetzt über eine sehr entspannte, sehr erfreuliche Finanzsituation reden. Wir werden das Geld in den nächsten Jahren aber auch brauchen. Wir haben unsere Versicherten befragt: Unsere Versicherten sind zum Ergebnis gekommen, kein Prämien-Jojo, kein Rauf und Runter von Beiträgen, sondern Investition in nachhaltige, verlässliche Versorgung. Das wollen unsere Versicherten. Und das werden wir mit dem Geld auch tun.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben schon, hab ich im Archiv gesehen, vor gut einem Jahr, als ja schon reichlich Überschüsse da waren, Rücklagen da waren, gesagt, "wir werden mit dem Finanzpolster die Leistungsangebote der AOK weiter verbessern". Können Sie mal ein, zwei Beispiel nennen, wo das Geld jetzt konkret hingeflossen ist?

Jürgen Graalmann: Wir haben mit den Überschüssen, die auch wir zu verzeichnen haben, noch nachhaltiger in Vorsorgeprogramme investiert. Wir geben im Rahmen von Prämien, von Bonusprogrammen bis zu 600 Euro an Versicherte zurück, die sich gesundheitsfördernd verhalten. Das ist ein Element unserer AOK-Pluspunkte, die wir im Rahmen der Kampagne aktuell auch umsetzen.

Deutschlandradio Kultur: Und was zum Beispiel ist gesundheitsförderndes Verhalten? Dass man im Sportstudio Mitglied ist, oder was zählt da?

Jürgen Graalmann: Also, das Klassische ist Bewegung, Ernährung. Man kann das im Rahmen von Bonusprogrammen nachweisen und dann mit seiner Krankenkasse entsprechend abrechnen. Wir haben durchaus die Erfahrung gemacht, dass man auch mit finanziellen Mitteln Leute anreizen kann, um sich gesundheitsbewusster zu ernähren. Aber trotz aller finanzieller Anreize, eine gewisse Grundmotivation muss jeder für sich mitbringen. Und von daher würde ich auch an der Stelle noch mal appellieren, auch jetzt über Pfingsten sich entspannt zu verhalten, aber ein stückweit an die eigene Gesundheit zu denken.

Deutschlandradio Kultur: Herr Graalmann, mal Hand aufs Herz: Gute Leistungsangebote haben ja auch ihre Mitbewerber. Und die geben teilweise, etwa die Techniker Krankenkasse, ihren Versicherten Geld zurück. Warum können die das? Warum machen Sie das nicht?

Jürgen Graalmann: Wir könnten das auch, aber unsere Versicherten erwarten von uns eine nachhaltige, verlässliche Versorgung und die Finanzierung dieser Versorgung. Wir sind stolz darauf, dass wir jedem unserer Versicherten – unabhängig davon, wie alt er ist, welches Einkommen er hat – eine medizinisch breite verlässliche, qualitativ hochwertige Versorgung bieten können. Wir geben in Deutschland pro Tag als Krankenkassen 500 Millionen Euro aus, jeden Tag – von Montag bis Sonntag. Das machen wir gerne, wenn die Qualität stimmt. Und wir haben derzeit, Sie hatten die Rücklagen angesprochen, Rücklagen, die etwa für einen Monat reichen, nur, um nur mal die Relation deutlich zu machen. Also, von daher ist unsere klare Aussage: Investition in Versorgung, kein Prämien-Jojo.

Deutschlandradio Kultur: Gut. Die andere Hälfte der Rücklagen aus dem Gesundheitsfonds, das wäre noch mal ein Monat. Das heißt, eigentlich haben wir jetzt zwei Monate Rücklagen, aber die Kassen ihrerseits haben allein nur einen. - Herr Graalmann, was vielleicht viele gar nicht wissen, rund jeder dritte Kassenpatient ist bei der AOK. Diese etwa 24 Millionen Menschen sind bei einer von insgesamt elf Allgemeinen Ortskrankenkassen versichert. Trifft es zu, dass dieses regional gegliederte System rund zwei Milliarden Überschüsse hat?

Jürgen Graalmann: Also, wir haben als AOK im letzten Jahr 2012 in der Tat 1,8 Milliarden Euro Überschuss gemacht. Aber ich hab ja darauf hingewiesen, dass wir ja jeden Tag mehrere hundert Millionen Euro ausgeben. Von daher muss man das ein stückweit in die Relation setzen. Wir sind stolz darauf, für unsere 24 Millionen Versicherten so leistungsstark und auch finanzstark zu sein, dass wir als AOK jetzt im fünften Jahr keine Zusatzbeiträge brauchen. Und ich bin zuversichtlich, dass das auch im nächsten Jahr so bleibt.

Deutschlandradio Kultur: Was halten Sie denn von der Idee, den Beitragssatz von 15,5 %, den einheitlichen Beitragssatz, abzusenken? Das würde doch die Versicherten wie die Arbeitgeber ein stückweit entlasten und wäre ja auch ein bisschen eine Konjunkturspritze.

Jürgen Graalmann: Also, das wäre jetzt eine ausgesprochen populistische Forderung, wenn ich einfach da mit in diesen Chor einstimme. Das werde ich aber nicht tun. Weil, wir haben jetzt in der Tat, Sie hatten darauf hingewiesen, Überschüsse im letzten Jahr. Wir werden auch in diesem Jahr Überschüsse machen. Es zeichnen sich jetzt aber bereits an dem konjunkturellen Himmel Wolken ab. Und ich möchte nicht, dass wir jetzt den Beitragssatz senken und innerhalb des nächsten Jahres bereits wieder anheben müssen. Und umgekehrt, aus den Überschüssen fließen allein dieses Jahr über drei Milliarden Euro ab, nur um weitere Leistungen im Bereich des Krankenhauses zu finanzieren. Die Praxisgebühr ist abgeschafft worden. Das sind etwa noch mal zwei Milliarden Euro pro Jahr, die auch aus den Rücklagen finanziert werden müssen.

Deutschlandradio Kultur: …und der Bundeszuschuss ist auch gekürzt…

Jürgen Graalmann: Und, genau richtig, Herr Steinhage, der Bundeszuschuss ist gekürzt worden. Vielleicht nur kurz zur Erläuterung für die Zuhörer: Wir bekommen pro Jahr zugesagt etwa 14 Milliarden Euro zur Finanzierung so genannter versicherungsfremder Leistungen.

Deutschlandradio Kultur: "Wir" sind alle Krankenkassen.

Jürgen Graalmann: Genau. "Wir" sind alle Krankenkassen, also 14 Milliarden Euro für die Finanzierung von beitragsfreier Familienversicherung, für Haushaltshilfe und weitere versicherungsfremde Leistungen. Dieser Zuschuss wird uns dieses und im nächsten Jahr um 6,5 Milliarden Euro gekürzt, um den Bundeshaushalt zu sanieren. Das ist keine verlässliche Steuerfinanzierung. Das müssen wir aus unseren Rücklagen kompensieren. Und deshalb noch mal die Aussage: Eine darüber hinausgehende Beitragssatzsenkung wird schon kurzfristig dazu führen, dass die Gelder nicht ausreichen.

Deutschlandradio Kultur: Wir reden ja jetzt über eigentlich gute Zeiten, was beispielsweise die Finanzlage der Krankenkassen angeht. Mit dem so genannten "Wettbewerbsstärkungsgesetz" hat die damalige Große Koalition in den Jahren 2007 und folgende das System der gesetzlichen Kassen ja massiv verändert. Bei der Einführung der Reform hagelte es Kritik eigentlich von allen Seiten. Inzwischen hat man den Eindruck, alle haben sich mit dem Umbruch irgendwie arrangiert. Ist diese schwarz-rote Gesundheitsreform am Ende vielleicht sogar ein Erfolg?

Jürgen Graalmann: Ich darf noch mal dran erinnern: Auch wir haben seinerzeit verschiedene Aspekte dieses Gesetzes kritisiert, wie ich heute noch finde, zu Recht kritisiert. Es hat seinerzeit in der Melange dieses gesamten Gesetzes insbesondere zwei Aspekte gegeben, die uns Sorge bereitet haben. Das war einmal die Einführung des Gesundheitsfonds. Und das war die Gründung des GKV-Spitzenverbandes. Diese beiden Dinge zusammen haben bei uns die Sorge wachsen lassen, dass die Politik eine Verstaatlichung des Gesundheitswesens plant, obwohl das Gesetz ja eigentlich – Sie hatten drauf hingewiesen – GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz heißt.

Deutschlandradio Kultur: GKV, muss man sagen, heißt Gesetzliche Krankenversicherung. Und der Spitzenverband ist der Dachverband für alle Kassen.

Jürgen Graalmann: Genau richtig. Und diese Sorge hat uns damals umgetrieben und hat uns zur Ablehnung dieses Gesetzes bewogen. Zwischenzeitlich, das darf man durchaus eingestehen, sind einige unserer Sorgen so nicht eingetreten, so dass wir uns mit der jetzigen Gemengelage ausgesprochen gut arrangiert haben. Wobei ich an der Stelle anmerken darf: Wettbewerbsstärkung ist nach wie vor notwendig. Vielleicht haben wir nachher noch Gelegenheit dazu zu kommen, dass wir nach wie vor der Auffassung sind, dass wir zum Thema Qualität, Wirtschaftlichkeit den Wettbewerbsgedanken deutlich stärker ausprägen müssen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Graalmann, bleiben wir noch einen Moment bei dem alten Gesundheitssystem, also das System ohne Gesundheitsfonds und das System, als die Krankenkassen selber ihren Beitragssatz individuell von Kasse zu Kasse festlegen konnten und die Kundschaft dann guckte, ob das die richtige Kasse ist. Würden Sie gerne zu diesem System zurückkehren? Oder sagen Sie, jetzt haben wir uns arrangiert, jetzt ist es okay?

Jürgen Graalmann: Ich glaub, man tut gut daran, nicht zurückzugucken, sondern nach vorne zu blicken. Wir haben den Gesundheitsfonds. Und ich beschäftige mich gerne nur mit politisch rationalen und pragmatischen Umsetzungen. Und ich gehe davon aus, dass – egal, wie die Bundestagswahl am 22. September ausgeht – der Gesundheitsfonds politisch nicht infrage gestellt wird. Von daher sollten wir uns damit beschäftigen: Wie kann man das Gesundheitswesen unter Rahmenbedingungen des Gesundheitsfonds weiterentwickeln?
An der Stelle spielt sicherlich eine Rolle: Wie kann man Krankenkassen stärker in die Lage versetzen, sich auch zu unterscheiden? Da bin ich bei meinem zuvor Gesagten. Wir brauchen im Rahmen der Wettbewerbsstärkung mehr Möglichkeiten, nicht alles gemeinsam und einheitlich, wie es so schön heißt, als Krankenversicherung zu machen. Wir haben über 130 Krankenkassen, die sich nach meiner festen Überzeugung stärker unterscheiden müssen, als das heute der Fall ist.

Deutschlandradio Kultur: Aber heute müssen bei den Leistungen 97 Prozent identisch sein. Das gibt der Gesetzgeber vor. Und die restlichen drei Prozent müssen Sie dann sehen, wie Sie sich sozusagen unterscheidbar machen. Richtig?

Jürgen Graalmann: Ja, wobei an der Stelle, das ist genau der Punkt, den ich kritisch anmerken möchte. Wir diskutieren heute, wenn wir über Wettbewerb reden, über einen Leistungswettbewerb. Das heißt: Wo können sich Krankenkassen bei ihrem Leistungskatalog unterscheiden?

Ich glaub, da sind wir ein Stück weit gedrängt, dass wir das kritisch reflektieren, weil ich möchte, dass jeder Versicherte, jeder Versicherte in Deutschland sich weiter drauf verlassen können muss, unabhängig davon, wo er versichert ist und welche Satzungsleistung er hat, wenn es ihn trifft im Versicherungsfall, muss er sich drauf verlassen können, dass die Leistungen medizinisch notwendig sind und er die in jedem Fall auch bekommt, und er nicht vorher in seinen Versicherungsvertrag guckt, welche Leistung ist jetzt abgesichert.

Meine Vorstellung von Wettbewerb geht dahin, dass wir als Krankenkassen uns intensiver um die Versorgungsqualität bemühen. Das heißt, ich möchte, dass wir die Möglichkeit bekommen, mit Krankenhäuser, die sehr gute Qualität machen beispielsweise, bessere Verträge zu machen, die auch höher zu honorieren, dafür aber beispielsweise als AOK Krankenhäuser, die keine ausreichende Qualität bieten, nicht mehr unter Vertrag zu nehmen, um meine Patienten vor solchen Krankenhäusern zu schützen und umgekehrt gute, engagierte, qualitativ hochwertige Ärzte auch höher zu honorieren.

Deutschlandradio Kultur: Genau. Lassen Sie uns über Krankenhäuser reden, allein schon deswegen, Herr Graalmann, weil die Krankenhäuser ja der größte Posten sind bei den Ausgaben der Gesetzlichen Krankenkassen. Letztes Jahr, glaube ich, sind allein 62 Milliarden Euro in die Krankenhäuser geflossen. Sie haben schon gesagt, mehr Qualitätswettbewerb zwischen den Kliniken wäre nötig. Jede zweite Klinik ist möglicherweise in den roten Zahlen. Sind Sie eigentlich auch dafür, Kliniken zu schließen vor dem Hintergrund, dass wir Experten zufolge eine eklatante Überversorgung haben?

Jürgen Graalmann: Ich glaub, das ist genau der Punkt, wo wir aufpassen müssen in der Diskussion. Man driftet relativ zügig ab in die Diskussion, wir müssen Kliniken schließen, wir haben zu viele Betten. Darum geht’s mir gar nicht.
Wir stellen fest, und wenn ich sage wir, meine ich damit nicht nur die AOK, sondern bis hin zum Bundesgesundheitsministerium, und auch die OECD stellt fest, dass wir in Deutschland in den letzten fünf bis zehn Jahren eine dramatische Zunahme an Operationen haben, und zwar an planbaren Operationen – Bandscheibe, Wirbelsäule, Knie, Hüfte -, und ein Großteil dieser Operationen medizinisch nicht zwingend notwendig ist. Dann stellt sich die Frage: Woran liegt das?

Deutschlandradio Kultur: Ökonomisch ist es interessant für die Krankenhäuser.

Jürgen Graalmann: Das ist genau der Punkt. Dann muss man sich die Frage stellen, auch als Krankenkasse die Frage stellen: Warum werden Operationen gemacht, die ja in jedem Einzelfall auch ein Risiko für den Patienten in sich bergen, die vielleicht medizinisch nicht notwendig sind?

Ich habe, lassen Sie mich das noch mal deutlich sagen, gar kein Problem damit, wenn es mehr Operationen gibt. Unsere Bevölkerung wird älter. Es gibt auch die Möglichkeit, im höheren Alter Operationen durchzuführen. Diese Operationen sind notwendig und müssen von den Krankenkassen auch bezahlt werden.

Was nicht akzeptabel ist, dass es aus rein ökonomischen Gründen eine Ausweitung von Operationen gibt. Und Sie hatten mich gefragt, woran liegt das. Nach meiner Überzeugung gibt es zwei zentrale Gründe. Wir haben heute eine ganze Reihe von Krankenhäusern, die Betten vorhalten und vor Ort in Konkurrenz zueinander stehen. Ein konkretes Beispiel..

Deutschlandradio Kultur: …Essen.

Jürgen Graalmann: Essen, genau. Vielen Dank, Herr Steinhage für die Steilvorlage. Essen. Wir haben allein in Essen im Umkreis von 50 Kilometer einhundert Kliniken, die Hüft- und Knietransplantationen machen. Braucht man die? Auch wenn Essen älter wird, das ist ein Überangebot an Kapazitäten, das zu einem Wettbewerbsdruck in der Region unter Krankenhäusern führt. Ich glaube, da muss man ansetzen. Da ist mein Votum, sich zu spezialisieren. Es müssen nicht alle Krankenhäuser alles anbieten.

Deutschlandradio Kultur: Klasse statt Masse.

Jürgen Graalmann: Genau, Klasse statt Masse, wobei an der Stelle, um auch Zuhörern die Sorge zu nehmen: Spezialisierung heißt nicht, dass wir die wohnortnahe Versorgung aufgeben. Notfallversorgung, da muss sich jeder darauf verlassen können, dass er ortsnah ein Krankenhaus hat. Ich bin gebürtiger Ostfriese und weiß, was es heißt, auf dem Land Versorgung zu organisieren. Aber bei den spezialisierten Bereichen, bei planbaren Operationen, da müssen wir uns zu speziellen Kliniken durchringen. Und da appelliere ich an Bürgermeister, Landräte, Landtags- und Bundestagsabgeordnete, da gemeinsam eine Initiative zu ergreifen.
Und der zweite Punkt, und das muss man, da muss man den Ball durchaus an die Landespolitik zurückspielen: Es ist in der deutschen Krankenhauslandschaft so, dass wir als Krankenkassen den normalen Betrieb von Krankenhäusern finanzieren. Das heißt, die Operationen, die Arbeit.

Deutschlandradio Kultur: Die Arbeit am Patienten.

Jürgen Graalmann: Die Arbeit am Patienten, genau. Die klassische Patientenversorgung finanzieren wir. Die Investitionen in Neubauten, in Renovierung oder in die Anschaffung von medizinischen Apparaten ist Sache der Länder. Das müssen die Länder finanzieren.

Deutschlandradio Kultur: Und die machen sich einen schlanken Fuß.

Jürgen Graalmann: Und die machen sich einen schlanken Fuß und finanzieren das seit Jahren nicht. Und das führt dazu, dass einzelne Krankenhäuser dann die Gelder, die wir ihnen geben, umwidmen in die Reparatur ihres Daches oder in die Investition von neuen Apparaturen. Und das fehlt dann bei der Patientenversorgung und führt zu einem wachsenden Druck bei Pflegekräften.

Deutschlandradio Kultur: Oder, wenn ich das sagen darf, weil ich noch mal zu dem Punkt gerne zurück würde, es führt eben auch dazu, dass die Krankenhäuser gezwungen sind, immer mehr - oder meinen, gezwungen zu sein -, immer mehr zu operieren, was zu dem führt, was wir eben gesagt haben. Dazu gehört ja auch die an sich ja gute Idee, ein Krankenhaus muss jedes Jahr eine bestimmte Zahl von Knieoperationen machen, sonst verliert es sozusagen die Lizenz zum Operieren an der Stelle. Dahinter steht die eigentlich ja vernünftige Idee, man muss nachweisen, dass man im Film ist, dass man erfahren ist, dass man das oft genug macht. Aber es führt eben dazu, dass dann im letzten Quartal möglicherweise noch ein paar Knie mehr gemacht werden, damit man auf die Quote kommt.

Sie haben gesagt, das ist auch alles sehr nachvollziehbar, das geht so nicht. Das geht ja auch so nicht im Interesse der Patienten und der Menschen, die die Versicherung mit Geldern ausstatten. Nur, was wollen Sie, was können Sie konkret tun, um da etwas zu unternehmen?

Jürgen Graalmann: Also, die Spezialisierung der Krankenhäuser…

Deutschlandradio Kultur: Denn das Problem, wenn ich das noch sagen darf, ist nicht neu, aber geschehen ist bisher noch nichts.

Jürgen Graalmann: Das ist genau richtig. Wobei, wenn Sie sagen, geschehen ist bisher noch nichts, darf ich uns als AOK, Sie erlauben mir das, ein Stück weit da ausnehmen. Wir haben vor einigen…

Deutschlandradio Kultur: Ich wäre verwundert, wenn Sie es nicht täten.

Jürgen Graalmann: Das gehört ja auch zu meinen Aufgaben. Wir haben bereits vor einigen Jahren investiert in die Transparenz von Qualität bei Krankenhäusern, und haben angefangen bei Operationen, die sehr häufig durchgeführt werden, bei planbaren Operationen – Knie, Hüfte und seit dem letzten Jahr auch Gallenblase – und haben alle Krankenhäuser in Deutschland unter die Lupe genommen. Gemeinsam mit einzelnen Krankenhausträgern haben wir ein solches Modell entwickelt und vergleichen bundesweit bei diesen drei genannten planbaren Operationen Krankenhäuser nach ihrer Qualität.

Das heißt: Wo gibt es nach diesen Eingriffen, nach diesen planbaren Eingriffen an Knie, an Hüfte hinterher Komplikationen, und zwar Komplikationsunterschiede, zwischen einzelnen Krankenhäusern? Erlauben Sie mir noch mal, das Beispiel Essen aufzugreifen. Es gibt im Umkreis von Essen bei Hüftoperationen Krankenhäuser, die haben Komplikationsraten nahe Null. Die liegen bei zwei, drei Prozent. Und es gibt bei den gleichen Operationstechniken Komplikationsraten bis zu 40 Prozent.

Deutschlandradio Kultur: Wo nehmen Sie die Erfahrung dann her? Wie ist das verifiziert?

Jürgen Graalmann: Also, wir bekommen eine ganze Reihe von Abrechnungsdaten von den Krankenhäusern. Und wir haben gemeinsam mit Krankenhäusern ein Modell entwickelt, wie man aus diesen Abrechnungsdaten, die wir von den Krankenhäusern bekommen, belastbare Fakten ermittelt. Und wir haben das ergänzt um Nachbehandlungsinformationen, das heißt, wenn man aus dem Krankenhaus heraus ist und dann zum niedergelassenen Arzt geht. Auch diese Informationen bringen wir zusammen, so dass wir erkennen können, welche Qualität, Ergebnisqualität eine solche Operation pro Klinik nachher zum Ausdruck bringt. Und das haben wir verglichen. Und zwar, das haben wir nicht nur verglichen für uns, wo wir reingucken können, sondern man kann unterAOK.de/Gesundheitsnavigator diese Informationen abrufen. Und das können alle Versicherten tun, auch die nicht bei uns versichert sind.

Aber erlauben Sie mir an der Stelle einen Hinweis: Ich möchte das nicht nur transparent machen können, sondern ich möchte dann auch den Krankenhäusern ein möglicherweise sogar höheres Honorar zahlen können, die sehr gute Arbeit machen. Und bei den Krankenhäusern, die Operationen mit hohen Komplikationsraten machen, die dann auch aus Patientenschutzsicht nicht mehr unter Vertrag nehmen.

Deutschlandradio Kultur: Also, ich kann an der Stelle ergänzen. Dieses – neudeutsch gesagt – Tool ist wirklich cool. Dieser Krankenhausnavigator, will aber auch ergänzen, weil Sie es natürlich nicht tun würden: Das Ding ist zusammen entstanden mit der Barmer GEK. Und die hat dieses Tool auch. Aber es ist in der Tat sehr umfassend und informativ. Ich sehe schon, das können die Zuhörer jetzt nicht sehen, Sie wollen dann doch noch was dazu sagen.

Jürgen Graalmann: Ich muss an der Stelle doch noch was sagen. Also, wir haben dieses coole Tool, was Sie beschreiben, als AOK in der Tat entwickelt. Das gibt es derzeit auch nur als AOK. Das, was Sie ansprachen mit der Barmer GEK: Wir haben ergänzend Patienten befragt, und zwar in der Tat als zwei Krankenkassen…

Deutschlandradio Kultur: …450.000 haben geantwortet…

Jürgen Graalmann: ... und mit den größten Patientenorganisationen. Wir haben über eine Million Krankenhauspatienten angeschrieben, um ihre Erfahrungen auch noch einfließen zu lassen. Und auch an der Stelle bin ich sehr stolz darauf, dass Patienten von sich aus sagen: Uns ist die Qualität eines Krankenhauses, die Betreuung durch Pflegekräfte und durch Ärzte wichtiger als das Essen oder die Krankenhaustapete.

Deutschlandradio Kultur: Herr Graalmann, wir stehen gedanklich sozusagen immer noch im OP. Ich will Ihnen auch das Thema Fallpauschalen nicht ersparen. Für die Hörerinnen und Hörer zur Information: Mit den Fallpauschalen bekommen die Kliniken bestimmte Summen für bestimmte Leistungen. Also, eine Blinddarm-OP bringt rund 3.500 Euro, die Implantation eines Herzschrittmachers bringt bis zu 15.000 Euro, je nach Komplexität der Behandlung. Sind Sie eigentlich ein Anhänger dieses Fallpauschalensystems, das wir seit zehn Jahren haben?

Jürgen Graalmann: Ich halte dieses Fallpauschalensystem für richtig und glaube sogar, dass man diagnoseindikationsspezifisch solche Pauschalen auch in anderen Bereichen, etwa im Bereich der spezialärztlichen Versorgung oder auch im Niedergelassenenbereich anwenden kann. Und es wird den Fallpauschalen vieles nachgesagt, was ich für unrichtig empfinde.

Deutschlandradio Kultur: …"blutige Entlassung", die Menschen werden zu früh nach Hause geschickt.

Jürgen Graalmann: Sie sprechen den Punkt an. Den darf man auch durchaus ansprechen.

Deutschlandradio Kultur: Das gibt’s ja.

Jürgen Graalmann: Genau, weil es diese Sorge gab bei der Einführung der Fallpauschalen 2003, hat man das um mehrere Studien ergänzt und begleiten lassen. Es gibt bisher keine Studie, die auf negative Konsequenzen, was die medizinische Versorgung angeht, hinweist, dass es also negative Konsequenzen gibt. Diese von Ihnen angesprochene Entlassung gibt es so nicht.

Ein Punkt: Die Verweildauer, das heißt, die Tage, die Patienten im Krankenhaus verbringen, sind kürzer geworden. Die sind aber vor Einführung der Fallpauschalen sehr viel schneller kürzer geworden. Das liegt nicht an der Vergütung, sondern das liegt daran, dass immer mehr Operationen auch ambulant möglich sind oder minimalinvasiv. Das heißt, es muss nicht mehr die ganze Bauchdecke aufgemacht werden, sondern man kann das mit einem kleinen Schnitt machen. Dann liegt man nicht mehr eine Woche, sondern nur noch zwei, drei Tage im Krankenhaus.

Und seit Einführung der Fallpauschale 2003 ist diese Verweildauer nur um 1,2 Tage zurückgegangen. Davor haben viele Krankenhauspatienten bis montags im Krankenhaus gelegen, sind nicht freitags entlassen worden.

Deutschlandradio Kultur: Damit das Wochenende noch abgerechnet werden konnte.

Jürgen Graalmann: Das ist jetzt vorbei.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt haben wir bereits, oder wir hatten bereits in der Vergangenheit - und haben immer noch - Skandale um minderwertige künstliche Hüftgelenke und schadhafte Brustimplantate, um jetzt nur mal zwei Beispiele zu nennen. Auch hier greift meines Erachtens der fatale Mechanismus, dass die Krankenhäuser Geld sparen wollen, die Patienten aber oftmals unnötig leiden müssen und die Krankenkassen gezwungen sind, diese ethisch äußerst fragwürdige und ökonomisch ja auch kontraproduktive Entwicklung zu finanzieren. – Was kann man da tun?

Jürgen Graalmann: Wir haben bei Hüften, aber – und das ist in der Öffentlichkeit noch stärker präsent bei den Brustimplantaten – ganz offenkundig Qualitätsmängel bei hochwertigen Medizinprodukten. Und wenn ich "hochwertig" sage, meine ich Hochrisikomedizinprodukte. Ich rede nicht über den Spatel, den man beim Kinder- oder Hausarzt kennt vom Ah-Sagen, sondern ich rede von Herzschrittmachern, von Knie-, von Hüftimplantaten oder von Brustimplantaten.
Diese Medizinprodukte, Hochrisikomedizinprodukte kann man als Hersteller in Europa an 80 Stellen europaweit zulassen.

Und es gibt ein sehr drastisches Beispiel: Britische Medizinjournalisten haben sich als chinesischer Hersteller ausgegeben und haben Prospektmaterial einer Hüfte, die Jahre zuvor aufgrund von Qualitätsmängeln vom Markt genommen worden ist, eingereicht und hätten die Zulassung bekommen. Das heißt, es hätte die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass Patienten eine qualitativ minderwertige Hüfte zugelassen bekommen hätten und eingebaut bekommen hätten. Das ist ein Skandal. Und ich halte es für einen Skandal, wie man mit Skandalen in der Politik umgeht, und fordere die Politik in Deutschland, aber auch in Europa, wo es derzeit um eine entsprechende Richtlinie geht, auf, das Zulassungsverfahren für Hochrisikomedizinprodukte endlich zu korrigieren und den Nutzen für den Patienten in den Vordergrund zu stellen. Und nicht abzuwarten, bis der nächste Skandal Politik zwingt etwas zu ändern.

Deutschlandradio Kultur: Herr Graalmann, unser Thema ist die Gesundheitspolitik - und wir reden zwangsläufig die ganze Zeit über Geld. Ist unser Gesundheitssystem nicht längst pervertiert, eben weil es so stark ökonomischen Zwängen unterliegt? Oder anders und ganz schlicht gefragt: Darf Gesundheit eine Ware sein?

Jürgen Graalmann: Die letzte Frage kann ich klar und eindeutig mit Nein beantworten. Gesundheit ist nicht mit Autos oder ähnlichem zu vergleichen. Gesundheit darf keine Ware werden. Und ich glaub auch, dass wir alle gemeinsam ein hohes Interesse daran haben, dass wir nicht in diese Sphäre abgleiten.

Was damit aber nicht gesagt ist, dass wir auf die Wirtschaftlichkeit nicht mehr achten dürfen und müssen. Aber das Patienteninteresse muss das zentrale Interesse im deutschen Gesundheitswesen sein. Und mein Votum geht dahin, dass Krankenkassen, Krankenhäuser, Ärzte dann gut dastehen müssen, wenn der Patient zufrieden ist.

Deutschlandradio Kultur: Werden wir in den nächsten Jahren um Rationierung in der medizinischen Versorgung herumkommen?

Jürgen Graalmann: Also, ich bin ganz sicher, dass wir das Wort von Rationierung gar nicht mehr in den Mund nehmen müssen, wenn wir statt Rationierung über Rationalität reden. Das heißt, wir müssen viel stärker als heute noch dazu kommen, wie das im Bereich Arzneimittel beispielsweise der Fall ist, dass wir uns über den Nutzen von Innovationen, von Medikamenten, von Medizinprodukten noch stärker Gedanken machen. Dann müssen wir über Rationierung nicht reden. Wir geben als Krankenkasse jedes Jahr Milliarden Euro mehr aus. Da darf Rationierung kein Thema sein.

Deutschlandradio Kultur: Ein schönes Schlusswort. Vielen Dank, Herr Graalmann.
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