Krank, aber heilbar

Rezensiert von Rolf Schneider · 10.08.2007
Der 1963 geborene Florian Felix Weyh bedient sich einer Technik, die vornehmlich in der deutschen Romantik populär war: der simulierten Herausgabe von Aufzeichnungen dritter. Hier heißt der erfundene Verfasser Mencken. Es gab einen realen Träger dieses Namens, in den USA, H. L. oder Henry Louis Mencken; er war ein ziemlich vielseitiger Journalist und Essayist und hat sich, unter anderem, über die Unzulänglichkeiten der Demokratie geäußert.
Weyhs Mencken heißt mit Vornamen Ludwig Theodor und ist Mediziner, nämlich emeritierter Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie. Bei ihm erscheint eine Patientin, die, äußerlich attraktiv und beschäftigt in einem Ministerium, an einer Neurose leidet. Mencken wird sie behandeln. Sie tritt lediglich mit ihrem Anfangsbuchstaben auf: K. Sofort stellen sich Assoziationen ein zu Franz Kafka und zu Bertolt Brecht. Mit ersterem hat das umständliche Prozedere zu tun, mit dem zweiten die dialogisch-dialektische Aufbereitung. Man sieht: Belletristischen Anspielungen gibt es die Menge.

Doch das Buch ist nicht mit dem schönen Geist befasst, sondern mit der Politologie. Die Patientin K. leidet an den Unzulänglichkeiten des republikanischen Systems. Der Arzt versucht ihr zu helfen, was in insgesamt zwanzig Sitzungen geschieht. Deren Epikrisen, von Mencken verfasst und von Mencken Tochter ediert, bilden den Inhalt des Buches.
Die Demokratie, die wir heute antreffen, ist, dies der Befund, nicht eben gesund. Eher ist sie krank, aber sie ist heilbar. Zu solchem Zweck werden therapeutische Vorschläge unterbreitet, insgesamt vierzig. Die geschichtlichen und geschichtsphilosophischen Exkurse, die sie umschreiben, sind gestützt durch sachverständige Zitate, von Kierkegaard und von Montesquieu, von Jean-Jacques Rousseau, von Odo Marquard und anderen. Außerdem gibt es wörtliche Protokolle der Gespräche zwischen Arzt und Patientin.
Das liest sich so:

"Die deutsche Nachkriegsdemokratie ist ein Erfolgsmodell sondergleichen. Sie hat uns Frieden, Wohlstand und Stabilität beschert. An ihrer Kontinuität ist nicht zu zweifeln.
- Das glaube ich nicht.
- Nehmen Sie die Fakten zur Kenntnis, dann wandelt sich die Glaubensfrage zur Gewissheit.
- Umgekehrt, Herr Professor: Der Nachkriegswohlstand hat uns Stabilität, Frieden und Demokratie beschert. Er resultiert aus den Zerstörungen des vorangegangenen Krieges, die wiederum Folge einer Diktatur waren. Ohne Diktatur kein Krieg, ohne Krieg kein Wohlstand, ohne Wohlstand keine Demokratie. Widerlegen Sie diesen Satz.
- Ich sitze nicht hier, um Sie zu widerlegen.
- Entschuldigung."

Derart, im Tonfall der Konversationskomödie, wird heimlich ein weiterer literarischer Ahn beschworen: der philosophierende Dialogautor Denis Diderot.

Dieser gesamte und nicht unbeträchtliche Aufwand gilt also dem einigermaßen belletristikfremden Gegenstand Demokratie. Die gibt es, wie man weiß, in vielerlei Gestalt: als direkte und indirekte, als repräsentative und plebiszitäre Demokratie, als konstitutionelle Monarchie und als Präsidialdemokratie. Jede dieser Formen ist in den Ländern, in denen sie stattfindet, geschichtlich gewachsen und hat von daher ihre Begründung. Jede besitzt ihre Vorzüge, wie sich gegen jede auch Einwände formulieren lassen. Dies gilt gleichermaßen für die unterschiedlichen Modelle des Wahlrechts, für Mitwirkung und Einfluss der Massenmedien, für Dinge wie Sperrklauseln und Parteienrecht.

Weyhs Ansatz bilden die durchaus nicht bloß in unserem Lande zunehmende Wahlmüdigkeit und Politikverdrossenheit. Dass beides die auf optimale Mitbeteiligung angelegte Politikform Demokratie gefährdet, ist Allgemeingut wie auch Inhalt vieler Sonntagsreden. Die Verführbarkeit, Manipulation oder Uninformiertheit des Wahlpublikums bedeutet eine zusätzliche Gefährdung. Allen diesen Symptomen wendet Weyh sich zu.

Nicht unerheblich dabei, welche Aspekte in dem Buche ausdrücklich fehlen. Die Rätedemokratie, die zu kommunistischen Diktaturen führt, kommt nicht vor, so wenig wie die fundamentale Demokratiekritik aus rechtskonservativer Sicht, etwa der des neuerdings wieder beunruhigend in Mode befindlichen Carl Schmitt. Florian Felix Weyh bewegt sich ganz im Rahmen des republikanischen Kanons. Er findet, dies will seine drastisch bemühte Medizin-Metaphorik bedeuten, die Demokratie in ihrer Substanz wohl angegriffen oder gefährdet, doch kurierbar.

Solche Erkenntnis stellt sich bereits her nach der Lektüre des ersten Sitzungsberichts. Es folgen in der gleichen Manier noch 19 weitere. Ich gestehe, dass mich das pseudomedizinische Beiwerk zunehmend gestört und ermüdet hat, zumal die Technik der Sitzungen dem Modell einer psychoanalytischen Behandlung folgt, bei welcher indessen hauptsächlich der Patient sprechen soll, wogegen hier vornehmlich der Mediziner redet.

Mein anderer Einwand besteht darin, dass der Autor, verliebt in seine Formulierfähigkeit und getrieben von dem Bedürfnis, einen Gedanken noch in seine äußerste Konsequenz zu verfolgen, manchmal bei Absurdität und Kalauern endet. Einige der Heilvorschläge laufen anderen zuwider, womit sie sich aufheben. Noch anderes ist einfach läppisch. Da wird etwa räsoniert, wir hätten in der Bundesrepublik zwar eine Verfassungsgericht, aber keine Verfassung, vielmehr ein Grundgesetz. Nun sind Verfassung und Grundgesetz inhaltlich identisch, abgesehen davon, dass einzelne unserer Bundesländer Verfassungen haben, die auch so heißen. Dass unser Grundgesetz nicht so heißen wollte, hat mit seiner Entstehung im geteilten Nachkriegsdeutschland zu tun.

In seinen inhaltlichen Absichten freilich ist Weyhs Buch eine ganz vorzügliche Angelegenheit. Es kümmert sich um Dinge wie qualifizierte Mehrheiten und die Aufteilung von Wahlkreisen, um die Auswirkungen der Informatik, um das Wahlalter.

"Der Bildungszensus - also der Ausschluss jener Menschen von der Wahl, die bestimmte intellektuelle Normen nicht erfüllen - wird in jedem westlichen Staat praktiziert. Nur erkennt man ihn nicht, weil er sich hinter einem anderen Ausschluss verbirgt: dem der Altersbegrenzung. Jedes Mindestalter stellt beim aktiven und passiven Wahlrecht einen verkappten Bildungszensus dar. Man geht davon aus, dass Jugendliche nicht die nötige Reife besitzen, um in einer Demokratie mitbestimmen zu dürfen. In diesem Verfahren steckt die gleiche Bevormundung, die sich Befürworter eines allgemeinen Bildungszensus vorwerfen lassen müssen. Einem politisch interessierten, frühreifen Vierzehnjährigen das Wahlrecht zu verweigern, während jeder Achtzehnjährige es aufgrund einer nominellen Kennziffer erhält, ist im höchsten Maße ungerecht. Folgte der Gesetzgeber dieser Geburtsdatumslogik überall, dürfte es auch kein gesondertes Jugendstrafrecht geben, das ja genau auf die enorme Spannweite im Reifegrad junger Menschen abzielt; als Mörder genießen sie größere individuelle Achtung denn als Bürger."

Es gibt Exkurse in die Geschichte der antiken Demokratie und jener der oberitalienischen Stadtstaaten. Sie sind erhellend. Die Äußerungen zu einzelnen Aspekten des modernen Demokratiebetriebs klingen angemessen, sind nachvollziehbar und animieren zum Weiterdenken. Dass sie nicht im härenen Predigerton erfolgen, sondern auf Kulinarische hin wollen, sei dankbar vermerkt; der Vortrag ist souverän und witzig. Das Buch stellt aus vielerlei Sicht die Demokratie in Frage, um sie und ihre Möglichkeiten immer wieder zu bestätigen. Dies erfolgt in einer Addition von Essays ganz aus der Tradition des großen Montesquieus. Ein Mehr an Lob lässt sich eigentlich nicht vergeben.

Florian Felix Weyh: Die letzte Wahl - Therapien für die leidende Demokratie
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007
Florian Felix Weyh: "Die letzte Wahl"
Florian Felix Weyh: "Die letzte Wahl"© Eichborn Verlag