Indische Arbeiter im Lockdown

Industrie bangt zum ersten Mal um Arbeitskräfte

21:59 Minuten
Blick auf eine Baustelle mit drei Arbeitern
Nach Ende des Lockdowns werden sie in indischen Großstädten händeringend gesucht: Arbeiter. © gettyimages / LightRocket / Ashish Vaishnav
Von Antje Stiebitz und Raghavendra Verma · 06.08.2020
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Den indischen Metropolen fehlen rund 20 Millionen Wanderarbeiter, die nach dem Lockdown nach Hause zurückgekehrt sind. Nun fährt die Wirtschaft wieder hoch, aber die Arbeiter bleiben lieber in ihren Dörfern. Das bringt die Wirtschaft unter Druck.
Der Kiosk hat wieder geöffnet und verkauft sein buntes Sortiment. Musik scheppert aus einer Box. In der kleinen Arbeitersiedlung hinter Gurgaon, einer Satellitenstadt von Neu-Delhi, ist erneut Leben eingezogen. Der strenge Lockdown, ausgerufen wegen der Coronapandemie, ist seit einigen Wochen wieder gelockert.
In einer der Hütten brät ein Arbeiter Zwiebeln und Karotten an. Auf einem kleinen Gaszylinder. Das klingt banal, ist es aber nicht. Denn im April trafen wir hier Arbeiter, die keine Lebensmittel kaufen konnten, die mit hungrigen Mägen auf unregelmäßige staatliche Lebensmittelrationen warteten, weil ihnen der strenge Lockdown Job und Lohn nahm.
Schätzungen zufolge wanderten damals indienweit rund 20 Millionen Wanderarbeiter zurück in ihre Dörfer. Mit den gelockerten Ausgangsregelungen kommen manche zurück.
"Im Dorf konnte ich kein Geld verdienen und hier bekomme ich 10.000 Rupien, umgerechnet rund 115 Euro. Ich arbeite für das Unternehmen Amazon. Dort sehe ich nach den Bestellungen und versende sie. Hier haben alle Firmen wieder aufgemacht und die Arbeit geht weiter. Alles scheint wieder okay zu sein", sagt Sanjay Yadav, während seine Augen immer wieder zum Fernsehbildschirm wandern. Er stammt aus der Kleinstadt Kannauj im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh, gute 400 Kilometer von Delhi entfernt.
Im Juni in Assam: Menschen warten in einer Schlange auf Essen.
Während des Lockdowns waren zahlreiche Menschen auf Lebensmittelspenden angewiesen.© picture alliance / ZUMA Wire / David Talukdar
Vor dem Kiosk steht Sumit Singh. Der junge Mann erzählt, dass er die letzten Monate im Dorf von der Landwirtschaft lebte. "Im Dorf bleibt niemand hungrig. Hier in der Stadt kann einem das passieren, aber nicht auf dem Dorf. Ich arbeite bei dem Unternehmen Vexis, das Polster für Fahrzeuge herstellt. Ich arbeite an einer Maschine. Den Job habe ich sofort wiederbekommen, als ich zurückkam."

Unternehmen arbeiten nur zu 20 bis 40 Prozent

Alles scheint wieder normal. Und trotzdem ist nichts mehr wie es war. Die meisten Unternehmen arbeiten zwar wieder, aber nur mit 20 bis 40 Prozent ihrer vollen Kapazität. Den Firmen fehlen die Arbeiter. Im April haben wir hier vier Arbeiter interviewt. Alle vier sind inzwischen in ihren Dörfern. Keiner von ihnen ist bislang zurückgekehrt.
Ravi Member, der die Hütten der Arbeitersiedlung vermietet, erklärt: "Hier in der Arbeitersiedlung stehen 60 Prozent der Räume leer. Die Arbeiter kommen nur langsam zurück. Alle sind beunruhigt. Das wird das ganze Jahr noch so weitergehen. Wir gehen davon aus, dass sich die Situation erst im Jahr 2021 verbessert."
Porträt des indischen Arbeiters Sumit Singh
Sumit Singh hat seine Arbeit gleich nach der Rückkehr nach Neu-Delhi zurückbekommen.© Deutschlandradio / Raghavendra Verma
Es ist das erste Mal in der Geschichte Indiens, dass die Industriebetriebe und der Fertigungssektor um Arbeitskräfte bangen. Der Analyst für Lebensmittel- und Handelspolitik, Devinder Sharma, erklärt: "Verschiedene Studien zeigen, dass von den Millionen Menschen, die in ihre Dörfer zurückkamen, etwa 70 Prozent nicht in die Städte zurückkehren werden. Andere Studien sprechen von 50 Prozent."
Der Grund? Sie mussten erfahren, dass sie zwar hart arbeiten, aber keinerlei Sicherheitsnetz haben, sagt Devinder Sharma. "Wenn sie in ihre Dörfer zurückgehen, wissen sie, dass sie auf etwas zurückgreifen können. Sie wissen, dass ihre Familien sie aufnehmen. Und auch wenn sie manchmal gesagt bekommen, dass sie eine zusätzliche Last sind: Sie wissen, dass sie dort ein Heim haben und nicht hungrig ins Bett gehen müssen."
Auch die rasant steigenden Fälle von Covid-19-Infektionen tragen dazu bei, dass die Wanderarbeiter in ihren Dörfern bleiben. In den Städten ist das Risiko höher sich anzustecken. Über 1,9 Millionen Menschen haben sich in Indien bis Anfang August, dem Zeitpunkt der Recherche, infiziert. Die Neuinfektionen nehmen täglich rapide zu. Dabei gelten die Testraten noch immer als gering.

Coronatote werden in Öfen oder auf Holz eingeäschert

Vor dem Nigam Bodh Ghat Krematorium in Delhi kommt ein Krankenwagen an. Zwei Männer, von Kopf bis Fuß in Plastik gehüllt, ziehen eine Rollbahre aus dem Wagen. Eine Leiche liegt darauf, ebenfalls in Plastik gewickelt. Die Männer rollen die Bahre durch ein Tor ins Krematorium.
Im Inneren fordert eine Stimme durch Lautsprecherboxen immer wieder dazu auf, Abstand zu halten. Der Geruch von Rauch liegt in der Luft. 39.795 Corona-Infizierte sollen in Indien bis Anfang August gestorben sein. In Delhi sind es inzwischen 4021 Tote. Die Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. Die Verstorbenen im Krematorium werden entweder in gasbetriebenen Öfen oder auf Holz eingeäschert. Seit der Epidemie verabschieden sich nur noch die engsten Verwandten von ihren Verstorbenen. Die Angst, sich anzustecken, hält die Menschen fern.
"Mein Bruder hat uns immer wieder um Hilfe gebeten wegen des Sauerstoffs. Drei Stunden lang hatte er keinen Sauerstoff bekommen. Er war Zuckerpatient, konnte aber nichts essen, weil er keinen Sauerstoff bekommen hat. Wir wissen nicht, ob er in den drei oder vier Tagen dort überhaupt etwas gegessen hat. Er sagte, dass wir ihm nichts bringen sollen, da er nicht an die Tür kommen kann und niemand da ist, der hilft."
Santosh Kumar starrt in die Flammen. Ihr Haar ist mit einem weißen Schleier verhüllt, ein großer schwarzer Mund-Nasen-Schutz bedeckt ihr Gesicht. Die Bedingungen in den Krankenhäusern seien erbärmlich, klagt sie. Die Regierung behaupte, die Krankenhäuser seien vorbereitet, aber das stimme nicht:
"Bringe Patienten niemals in ein Krankenhaus. Vor allem nicht in ein Regierungskrankenhaus. Wenn man kein Geld hat, ist es besser, den Patienten zu Hause zu behalten, damit die geliebten Menschen in deiner Nähe sterben. Dann kann man mit ihnen zusammen sein, sie trösten."
Sind die Patienten erst einmal im Krankenhaus aufgenommen, dürfen sie keinen Kontakt mehr mit ihren Angehörigen haben, erklärt Satya Narayan Sharma. Er ist der Bruder des Verstorbenen und hält seine Schwester im Arm. Das Klinikpersonal kläre die Angehörigen nicht über den Zustand der Patienten auf. Und die Todesursache bleibe oft im Dunkeln:
"Es war wahrscheinlich kein Corona, denn auf den Entlassungspapieren steht nur Coronaverdacht." Dabei sei ihr verstorbener Bruder bereits vor Tagen auf Corona getestet worden, aber auf die Testergebnisse haben die Geschwister vergeblich gewartet.

Angst vor Corona hält die Arbeiter in ihren Heimatdörfern

Wer auf dem Land solche Nachrichten liest, von überfüllten Krankenhäusern und sprunghaft ansteigenden Coronazahlen in den Metropolen, bleibt lieber zu Hause. Und es gibt weitere Gründe, die eine Rückkehr der Wanderarbeiter verhindern.
"Dann haben wir gerade in den letzten Wochen die Situation, dass in einigen Städten wie zum Beispiel Bangalore oder Chennai, wo relativ früh wieder aufgemacht wurde, die Anzahl der Fälle so stark wieder angestiegen ist, dass man jetzt wieder ganz scharf zugemacht hat."
Mann lässt sich auf Corna testen, an einer mobilen Teststation in Neu-Delhi.
Die Sorge vor dem Virus ist geblieben: mobiler Coronatest in Neu-Delhi.© picture alliance / ZUMA Wire / SOPA Images / Pradeep Gaur
Bernhard Steinrücke ist Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Indischen Handelskammer und sitzt in Mumbai. Er vertritt hier 1800 deutsche Firmen und deutsch-indische Joint Ventures.
Oft werden Regionen oder Stadtteile abgesperrt, weil sich dort Coronahotspots auftun. Diese uneinheitlichen Lockdowns machen den Unternehmen zu schaffen. "Dann ist es extrem schwierig, die Mitarbeiter überhaupt rauszubekommen aus ihren Siedlungen und dann in die Fabriken zu bekommen."
Beim Bekleidungshersteller "Trendsetters International" laufen die Nähmaschinen wieder. Das Unternehmen liegt nicht weit von der kleinen Arbeitersiedlung hinter Gurgaon, der Satellitenstadt Delhis. Normalerweise arbeiten hier 1350 Menschen auf vier Ebenen. Doch im Moment sind es nur 600. Anjeev Dubey ist Manager bei "Trendsetters".
"Was den Mangel an Arbeitskräften betrifft, hat sich die Situation um zehn oder 15 Prozent verbessert. Diejenigen, die in der näheren Umgebung leben, 100 bis 250 Kilometer entfernt, sind zurückgekommen. Aber diejenigen, die in weiter entfernt liegenden Bundesstaaten leben, etwa Bihar oder Jharkhand, sind noch nicht zurückgekehrt. Für die Arbeiter im Umkreis haben wir den Transport arrangiert. Nur deshalb hat sich der Arbeitskräftemangel leicht verbessert."

Arbeitgeber finanzieren Transportkosten für die Arbeiter

Auch mit den Arbeitern im Bundestaat Bihar hat das Unternehmen Kontakt aufgenommen. Doch in Bihar wurde wieder ein Lockdown verhängt, da die Coronafälle in die Höhe schnellten. Außerdem überflutet der Monsunregen dort ganze Landstriche. Anjeev Dubey:
"Die Arbeitgeber sind jetzt bereit, die Transportkosten von Bihar hierher selbst zu bezahlen. Ein Bus kostet etwa 50.000 bis 60.000 Rupien, also 570 bis 680 Euro. Aber alles spricht dagegen, dass sie zurückreisen können. Es wird noch etwas dauern, bis sich die Situation verbessert."
Der Arbeiter Dayaram Verma kehrte in seine Heimat Uttar Pradesh zurück, als im März der Lockdown begann. Mit den Lockerungen kam er an seinen Arbeitsplatz zurück. Vor dem Lockdown wohnte er mit seiner Frau und seinen Kindern zur Miete. Aber jetzt ist er erst einmal allein gekommen:
"Ich sende Geld nach Hause ins Dorf, und wir betreiben auch noch etwas Ackerbau. Das hilft uns zu überleben. Es war schwierig während des Lockdown ohne Verdienst auszukommen. Ich hatte Ersparnisse, aber die haben wir jetzt für das tägliche Leben ausgegeben."
Die Unternehmen jedenfalls mussten in den letzten Wochen erkennen, dass ohne ihre Wanderarbeiter nichts geht. Bernhard Steinrücke:
"Tatsächlich ist es so, dass sich die Firmen jetzt sehr stark oder zumindest einige sehr stark um die Arbeiter kümmern und versuchen, die zurückzubekommen; und die dann auch besser bezahlen und auch besser unterbringen, weil sie eben wissen, sie brauchen die."

Lieferungen bleiben aus

Die Unternehmen kämpfen nicht nur um ihre Arbeiter, sondern auch um ihre Lieferketten. Innerhalb Indiens bleiben die gewohnten Lieferungen oft aus. Aber vor allem fehlt Ware aus China.
Die chinesischen Lieferketten, so Bernhard Steinrücke, stockten aus zwei Gründen: "Die waren zunächst unterbrochen wegen Corona in China, und weil eben die ganzen Transportwege nicht funktionierten. Dann waren sie erneut unterbrochen durch den Grenzkonflikt, den Indien mit China hatte. Es gab große Probleme in den Häfen, weil die Lieferungen aus China nur sehr, sehr zögerlich abgewickelt wurden."
Im Juni waren chinesische Soldaten im Himalaya auf indisches Territorium gedrungen. Der Zwischenfall kostete 20 Menschen das Leben. Indien, von der Coronaepidemie geschwächt, bewertete die Aktion als hinterhältig. Deshalb, so Bernhard Steinrücke, habe es von indischer Seite eine Art stillen Boykott chinesischer Produkte gegeben.
"Wir könnten die chinesischen Produkte bestimmt boykottieren. Aber es wird eine gewisse Zeit dauern. Wir denken alle darüber nach, wie wir das bewerkstelligen können."
Vor allem spezielle Schnüre, Knöpfe und Stoffe müssen erst entwickelt werden, erklärt "Trendsetters"-Direktor Rajya Vaidya. Aber er ist zuversichtlich. Einige indische Fabriken hätten bereits damit angefangen. Und wie steht es um den Handel mit Europa? "Der Europäische Kleidermarkt macht langsam auf. Wir bekommen wieder Anfragen. Das ist okay!", freut sich Rajya Vaidya.
Doch bis wieder Normalität einkehrt, wird es noch dauern, fügt er hinzu. Denn erst müssen die Wanderarbeiter zurückkehren.

Mitte Juni kam es zu Auseinandersetzungen zwischen chinesischen und indischen Soldaten an der indisch-chinesischen Grenze. 20 Soldaten starben. Was hinter diesem Konflikt steckt, erzählt Silke Diettrich aus dem ARD-Studio Neu-Delhi:

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