Korrespondenz eines Getriebenen

22.02.2008
Die Zeit zwischen 1911 und 1918 gestaltet sich für Kurt Tucholsky recht ereignisreich: Sein literarisches Debüt "Rheinsberg" erscheint 1912 und in diesem Zeitraum erfindet er auch seine vier Pseudonyme, lernte seine spätere Frau kennen und muss an die Ostfront. Band 16 der kritischen Gesamtausgabe ermöglicht nun, den obsessiven Schreiber auch von seiner zärtlich-melancholischen Seite her kennenzulernen.
Kurt Tucholsky schreibt in einem Brief vom 11.8.1918 an seine Geliebte Mary Gerold:

"Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird."

Geliehen hat er das Zitat von Christian Morgenstern, dessen Satire er über alles schätzte. Der 1890 in Berlin-Moabit geborene Tucholsky hält sich zu diesem Zeitpunkt als - wie er es nennt - "Schreibsoldat" an der Ostfront auf.

Einen Wohnsitz hatte der promovierte Jurist und begnadete Publizist, Essayist, Erzähler und Verfasser von international bekannten Couplets zu keiner Zeit seines Lebens. Ob in Berlin, Paris oder im schwedischen Exil, Tucholsky war nirgends daheim. Richtig bei sich konnte er nur in der Sprache sein.

Im Band sechzehn der seit 1991 erscheinenden Kritischen Gesamtausgabe seiner Werke können nun die ereignisreichen Jahre von 1911 bis 1918 nacherlebt werden. In diesem Zeitraum wird nicht nur der Mann "mit den 5 PS" (Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, Kurt Tucholsky) aus der Taufe gehoben. Auch sein literarisches Debüt "Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte" (1912) erscheint und verkauft sich 120.000mal bis 1932.

Beim Lesen stellen sich interessante Verknüpfungen her. Denn stellt man die Figur der Claire aus der Romanze "Rheinsberg" neben die 1914 veröffentlichten Grotesken in "Der Zeitsparer", büßt sie erheblich an Süße ein. Das Unbehagen des jungen Autors am bürgerlichen Heldenleben tritt plötzlich in beiden literarischen Konzepten deutlich hervor.

Die 420 Briefe des Bandes lassen einen obsessiven Schreiber erkennen. Doch während die Jahre 1911 bis 1917 nur ein Fünftel des 500 Seiten umfassenden Konvoluts ausmachen, in denen Briefe an die geliebte Schwester, an Hermann Hesse, Max Brod, Christian Morgenstern und vor allem an den "Simplicissimus" - Redakteur Hans Erich Blaich (Dr. Owlglass) gehen, wird in den verbleibenden zwölf Monaten die Liebeskorrespondenz an Mary Gerold präsentiert.

Tucholsky lernt die aus Riga stammende, acht Jahre jüngere Frau Ende 1917 in der "Artillerie- Fliegerschule" Alt-Autz kennen. Von einer Seite zur anderen ändert sich sein Briefstil und eine große Sehnsucht nach Nähe artikuliert sich in den täglich verfassten schriftlichen Zuwendungen. In verspielten Anrufungen wie "geliebte Schrumpelhexe" oder "liebes Kornblumenmätzchen" wird der Kriegsalltag konterkariert. Ihm gewährt der Pazifist Tucholsky lediglich in einer aufblitzenden Formulierung wie "Krieg wird hier auch geführt. Und zwar abends zwischen 11 und 1 Uhr. Ich persönlich schlafe dann immer" Raum.

Gerade die Aussparung aber verweist auf eine beunruhigende Leerstelle, die der empfindsame Zeitkritiker sorgenvoll verfolgt. Dass er sich "trefflich aufgehoben" nur bei Arthur Schopenhauer fühlt, dessen Philosophie bereits den Jurastudenten faszinierte, lässt innere Konvulsionen ahnen, die explizit nicht benannt werden.

Auch dieser Band der auf Vollständigkeit zielenden Gesamtausgabe zeichnet sich durch eine sorgfältige Kommentierung und textkritische Sichtung aus. Und obwohl dieser im Umfang dem Briefteil in nichts nachsteht, ergibt sich keine Schieflage. Weder lästige Fußnoten noch nummerierte Nachweiszeichen stören den Benutzer, der je nach Bedarf auch darin herumstöbern kann.

Rezensiert von Carola Wiemers

Kurt Tucholsky Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Band 16: Briefe 1911-1918
Hrsg. v. Antje Bonitz und Christa Wetzel, unter Mitarbeit v. Bernhard Tempel.
Rowohlt 2008
1070 Seiten. 49,90 Euro.