Korrespondentin über US-Obdachlose

"Ständig Angst, dass die Polizei kommt"

Ein Obdachloser auf einer Straße in San Francisco, Kalifornien
Ein Obdachloser auf einer Straße in San Francisco, Kalifornien © picture-alliance/ dpa/ epa Arleen Ng
Nicole Markwald im Gespräch mit Isabella Kolar · 17.11.2015
Obdachlosigkeit ist ein Riesenproblem in den USA. Die Bürgermeister von New York und Los Angeles wollen in den nächsten Jahren eine Milliarden US-Dollar für Wohnungen und Notunterkünfte bereitstellen. LA-Korrespondentin Nicole Markwald bezweifelt, dass dies die Lösung bringt.
Isabella Kolar: Nicole Markwald, unsere Korrespondentin in Los Angeles, wir werden gleich ihr Feature über die dramatische Situation der Obdachlosen in LA und Umgebung hören. In New York ist ihre Zahl auf dem höchsten Stand seit der großen Depression von 1929 angelangt. Sogar auf Hawaii soll schon Notstand herrschen. Kündigt sich da einfach die kalte Jahreszeit an oder ist wirklich Obdachlosengroßalarm in den USA?
Nicole Markwald: Ich glaube, das hat nicht viel mit der Jahreszeit zu tun. Obdachlosigkeit ist ein Riesenproblem in den USA, und es wird nicht kleiner. Wir schauen mal auf die Zahlen: Die höchste Rate gibt es tatsächlich auf Hawaii. Dann folgen New York und der Bundesstaat Nevada. Die Organisation National Alliance to end Homelessness, die sich eben für die Beseitigung von Obdachlosigkeit einsetzt, schrieb in ihrem Bericht über das Jahr 2015 mit der letzten Zahl, die sie so hatten, und zwar ging es da um eine Nacht im Januar 2014, sie haben da gezählt 578.424 Menschen, die in der Nacht draußen oder in einer Notunterkunft geschlafen haben. Und das sind ja nur die offiziellen Zahlen.
Es gibt ja Tausende weitere, die obdachlos sind, also ohne permanente Adresse, das ist ja die Definition von Obdachlosigkeit, die leben eben vorübergehend in Hotels, in ihren Autos, bei Verwandten oder Freunden, also machen Couchsurfing. Und wenn wir uns jetzt noch mal ein konkretes Beispiel ansehen, New York zum Beispiel – die Stadt ist ja die Großstadt mit den meisten Obdachlosen, auf die Gesamtbevölkerung gerechnet –, und vergangene Woche Dienstag, also eine ganz aktuelle Zahl, da haben 57.700 Menschen in Unterkünften übernachtet. Das sind 13 Prozent mehr als am gleichen Tag vor zwei Jahren. Auch da gilt natürlich, Tausende mehr sind auf der Straße, die in dieser offiziellen Zählung gar nicht auftauchen. Also ja, das Problem wird nicht kleiner, sondern größer, wobei, das muss ich betonen, das nur für bestimmte Orte gilt. In New York oder Los Angeles wird es schlimmer, in anderen Gegenden der USA besser.
Kolar: Wenn wir schon über Zahlen sprechen, gibt es Angaben über die Zahl der Obdachlosen in den USA insgesamt?
Markwald: Das ist wirklich schwer herauszufinden. Die einzige Zahl, die ich gefunden habe, die stammt aus dem Januar 2013, ist also schon ein bisschen älter, und da wurden gezählt 610.000 Obdachlose. Aber auch hier gilt, das ist die offizielle Zahl. Und es gibt eben Tausende Menschen, die da gar nicht auftauchen, weil sie eben nicht in diese offiziellen Notunterkünfte kommen, sondern sich irgendwie anders behelfen und im Notfall halt in ihrem Auto schlafen oder bei Verwandten.
Kolar: Und der Staat reagiert. In vielen amerikanischen Großstädten gibt es spezielle Polizeieinheiten, die die Obdachlosen und ihre Lager kontrollieren, aber das ist doch eine Kriminalisierung der Betroffenen, oder?
Auflösung von Camps auf Hawaii sehr verbreitet
Markwald: Es macht die Situation für die Betroffenen sicher nicht einfach, wenn sie ständig Angst haben müssen, dass die Polizei kommt oder auch Mitarbeiter der Stadt, die ja dann auch gern diese Camps auflösen. Das ist eine Praxis, die zum Beispiel in Honolulu auf Hawaii sehr verbreitet ist. Hier in LA wird sie nicht mehr praktiziert übrigens. Die Betroffenen haben dann ein paar Stunden Zeit, ihre Sachen bei der Polizei wieder abzuholen, aber unter Umständen ist ihr ganzes Hab und Gut weg, und das ist ja ohnehin nicht viel.
Und das bringt natürlich viel Unsicherheit, verstärkt das Gefühl, der Willkür der Behörden ausgeliefert zu sein. Hawaii ist sowieso ein sehr spezieller Fall. Die Behörden sind da wirklich knallhart. In Waikiki, das ist ja der weltberühmte Strand von Honolulu, den wir alle kennen, weil das gesurft wird und weil es einfach ein wunderschöner Strand ist, in Waikiki haben Obdachlose nicht einmal die Erlaubnis, auf dem Bürgersteig zu sitzen. Man will da einfach dieses Straßenbild ganz sauber halten. Waikiki ist extrem beliebt bei asiatischen Touristen, natürlich auch viele Amerikaner kommen dahin, und man regiert da wirklich mit harter Hand und vertreibt die Obdachlosen im Prinzip nur an andere Orte, die dann wirklich ghettoähnliche Züge annehmen. Als ich auf Hawaii war und mir das angeschaut habe, habe ich wirklich unglaublich schlimme Zustände vorgefunden, wo man nicht glauben kann, dass man in den USA ist.
Kolar: Also deutliche Diskriminierung. Ein ganz anderer diskriminierender Aspekt vielleicht ist, dass 60 Prozent der Obdachlosen zum Beispiel in New York schwarz sind. Ist das Obdachlosenproblem in den USA ein Rassismusproblem, wie manche sagen?
Markwald: Hautfarbe spielt da sicherlich eine Rolle. Man muss dazusagen, Obdachlosigkeit und Armut sind eng verknüpft. Es gibt zwei Gründe, die für viele Menschen in die Obdachlosigkeit führen. Das ist erstens der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und eben Armut, dass sie keinen Job haben, der genügend bezahlt. Und wenn wir uns da mal die Armutsstatistik angucken: 14,5 Prozent aller Amerikaner leben in Armut. Das sind Millionen Menschen, die immer wieder Gefahr laufen, ihr Zuhause zu verlieren. Denn wenn sie die Wahl haben, von dem wenigen Geld, das sie möglicherweise durch einen Job nach Hause bringen, was fällt irgendwann weg? Medizinische Betreuung, Schulkosten, Essen – dann entscheiden sich Menschen tatsächlich dafür, zeitweise ihre Wohnung aufzugeben, ziehen in ihr Auto oder ziehen erst mal zu Verwandten, kommen da erst mal unter.
Und wenn wir über Hautfarbe sprechen, dann müssen wir natürlich auch bedenken, die Bildungs- oder Jobchancen sind für Schwarze geringer. Der Familienzusammenhalt ist unter Schwarzen geringer, anders als beispielsweise in Familien mit lateinamerikanischen Wurzeln. Da herrscht ein sehr starker Familienzusammenhalt. Und es gibt auch noch einen großen Unterschied zwischen Stadt und Land. Auf dem Land sind die Obdachlosen eher weiß, in der Großstadt sind sie eher farbig.
Kolar: Der Bürgermeister von New York, Bill de Blasio, will in den nächsten vier Jahren eine Milliarde US-Dollar investieren, also richtig Geld in die Hand nehmen. In Los Angeles will Bürgermeister Garcetti in den kommenden Jahren 100 Millionen Dollar für Wohnungen und Notunterkünfte bereitstellen. Das heißt, alles ist jetzt auf einem guten Weg?
Obdachlose leiden häufig unter Abhängigkeiten
Markwald: Zumindest ist es wieder mal ein Versuch, dieses Problems Herr zu werden. Wobei es in den letzten 40, 50 Jahren immer wieder Projekte gab, Obdachlosigkeit zu beenden, und es nie funktioniert hat und teilweise sogar noch die Situation schlimmer gemacht hat. Es gibt ja diese große Frage: Helfen wir den Menschen, indem wir ihnen Wohnraum zur Verfügung stellen? Und verlangen wir im Gegenzug von diesen Menschen, dass sie die Finger von Drogen lassen? Weil häufig sind Obdachlose also die, die wir so im Kopf haben, die wohnungslosen Menschen, die auf dem Gehweg kampieren. Es sind häufig Menschen mit Abhängigkeiten von Medikamenten, anderen Drogen, Alkohol, die irgendwelche Traumata in ihrem Leben erlebt haben. Familien sind auseinandergebrochen, sie waren im Krieg, haben Unfälle gehabt, schwere Krankheiten, Menschen durch traumatische Erlebnisse verloren und können das nicht verarbeiten beziehungsweise sind irgendwie aus der Gesellschaft, aus diesem Netz herausgefallen.
Wie hilft man diesen Menschen? Einfach nur, indem man ihnen eine Wohnung gibt, oder knüpft man das an Bedingungen? Man hat halt einfach festgestellt, dass das nicht funktioniert, zu sagen, hier, du kriegst eine Einzimmerwohnung, aber dafür nimmst du keine Drogen mehr. Diese Menschen wissen teilweise gar nicht, wie ein geregelter Tagesablauf funktioniert. Für die geht es ja auf der Straße wirklich nur ums Überleben, irgendwo Essen herzukriegen und nicht zu erfrieren nachts auf der Straße. Das ist ein Thema, wo auch viele Millionen Dollar nicht wirklich weit kommen.
Kolar: Hat die Politik das Thema auch erkannt? War und ist die Situation der Obdachlosen ein Anliegen für US-Präsident Obama?
Markwald: Ja, er hat es zum Thema seiner Regierung gemacht und hat dieses Thema abgegeben an seine Frau und die Frau des Vizepräsidenten, also Michelle Obama und Gill Biden haben sich von Beginn an diesem Projekt verschrieben. Es gibt ein Fünfjahresprogramm, speziell die Obdachlosigkeit von Kriegsveteranen zu beenden. Michelle Obama hat mal gesagt, das ist ein "stain on our nation", was man so übersetzen kann wie ein "Schmutzfleck für unsere Nation", beschämend, dass es unseren Veteranen so geht. Und 2010 hat das Ministerium für die Angelegenheiten der Veteranen dafür gesorgt, dass rund eine Viertelmillion Veteranen aus Obdachlosigkeit herauskommen beziehungsweise nicht hineinrutschen. Und man hat da eben eine neue Herangehensweise benutzt, nämlich Unterkünfte anzubieten, auch wenn die Veteranen möglicherweise drogenabhängig sind. Das wäre vor zehn Jahren zum Beispiel noch undenkbar gewesen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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