Kopfverletzungen im Sport

Lange unterschätztes Risiko

Der deutsche Fußball-Nationalspieler wird während des WM-Finales 2014 gegen Argentinien vom Platz geführt, nachdem er mit einem Gegenspieler zusammengestoßen war.
Der deutsche Fußball-Nationalspieler Christoph Kramer wird während des WM-Finales 2014 gegen Argentinien vom Platz geführt, nachdem er mit einem Gegenspieler zusammengestoßen war. © dpa/picture alliance/Chema Moya
Von Sabine Gerlach · 22.01.2017
Verletzt sich ein Spieler am Kopf, sollte er gründlich untersucht und eine Gehirnerschütterung ausgeschlossen werden. So fordern es Ärzte. Doch in der Praxis passiert es immer wieder, das Kopfverletzungen nicht ernst genug genommen werden - mit schlimmen Folgen für die Spieler.
Interview mit Stefan Ustorf, sportlicher Leiter der Eisbären Berlin (9:54 min.):
In der Wiederholung ist zu sehen, dass Christoph Kramer von einem Gegenspieler am Kopf getroffen wird und danach zu Boden geht. Nach einer kurzen Behandlung an der Außenlinie kehrt Kramer auf das Spielfeld zurück:
"Und Kramer spricht jetzt kurz unten auch mit Löw und mit Hansi Flick und deutet an, dass er wieder rein kann und jetzt ist er wieder drin im Spiel."

Weiterspielen mit Filmriss

Drin im Spiel, aber nicht Herr seiner Sinne. Kramer läuft orientierungslos über den Platz. Er wirkt benommen und desorientiert, weiß offenbar nicht so recht wo er sich befindet:
"Versuch von Lahm, Kramer mitzunehmen, der nicht im Spiel ist, muss man sagen. Seine Versuche, den Ball zu behaupten gelingen ganz, ganz selten."
Kein Wunder. Später wird bekannt, dass Kramer einen Filmriss hatte. Vom Schiedsrichter wollte er wissen, ob, Zitat: "Das das Finale ist?" Der Unparteiische zieht die Notbremse und sorgt dafür, dass Kramer in der 31. Minute ausgewechselt wird. Warum die Mannschaftsärzte nicht reagierten, weiß man nicht:
"Man muss natürlich immer sagen, man muss direkt am Feld entscheiden und das sind alles Dinge die dann, genau wie ein Schiedsrichter in Sekundenschnelle entscheiden muss, auch ein Arzt hier entscheiden muss."
Doktor Wolfgang Klein ist Mannschaftsarzt bei den Eishockeyprofis der Wolfsburg Grizzlys. In der Deutschen Eishockeyliga nimmt man die Gefahr, dass Spieler bei Zusammenstößen trotz Helm schnell ein Schädel-Hirntrauma erleiden können, ernst:
"Also, in der 1. Liga, in der DEL, wird seit 2013 verbindlich als Teil der Lizensierungsuntersuchung dieser sogenannte Baselinetest durchgeführt, um eben im Falle von Verletzungen während der Saison Vergleichswerte der individuellen Spieler zu haben. Kann z. B. sein, dass ein Spieler schon von Haus aus etwas hörempfindlich, lärmempfindlich oder lichtempfindlich ist und wenn wir das dann nicht in einer Baseline feststellen, dann stellen wir es fälschlicherweise fest anlässlich einer Verletzung und werten es als krankhaften Befund obwohl es eigentlich für den Spieler normal ist."

Untersuchung vor Saisonbeginn

Auch die Basketballer von Alba Berlin werden vor Saisonbeginn gründlich untersucht, um mögliche Symptome nach einer Kopfverletzung richtig deuten zu können:
"Es werden bestimmte Fähigkeiten des Kopfes, Gedächtnisfunktionen, Reaktionsschnelligkeit genau getestet, d.h. wir haben eine Baseline sozusagen, wissen also, wie war der Spieler drauf vor einer möglichen Verletzung, vor der Saison und im Falle einer Verletzung können wir das dann vergleichen."
Und die richtigen Konsequenzen ziehen, ergänzt Alba-Mannschaftsarzt Moritz Morawski. Kopfverletzungen, auch wenn sie zunächst harmlos aussehen, dürfen nicht bagatellisiert werden. Mannschaftsärzte sollten deshalb nach Schädel-Hirn-Traumen auf das Fachwissen von Experten wie Dr. Ingo Schmehl zurückgreifen. Er ist Direktor der neurologischen Klinik im Unfallkrankenhaus Berlin:
"Also wichtig ist die Anamneseerhebung, also genau zu erfragen, was hat der von dem Ereignis mitbekommen, hat er einen Blackout gehabt, ist er bewusstlos gewesen und dann die klinische Untersuchung, d.h. hat er irgendwelche Ausfallerscheinungen im körperlichen Untersuchungsstatus, das reicht aber alleine nicht aus, wenn man merkt, dass er eben von der Aufmerksamkeit etwas verlangsamt ist, dass er sich nur noch wenige Stunden konzentrieren kann, schnell müde wird, Schlafstörungen hat, dann ist die Notwendigkeit da, dass man weitergeht, neuropsychologische Testungen durchführt. In der Gesamtheit wird dann eine Gesamtbeurteilung vorgenommen, d.h. sind noch Symptome da, hat er einen Rehabedarf ambulant, stationär oder ist er wieder fit."
Spielaus bei Verdacht auf Gehirnerschütterung
Um möglichst viele Kollegen, aber auch Trainer und Betreuer zu sensibilisieren, wurde von Dr. Schmehl in Zusammenarbeit mit anderen Ärzten und der Verwaltungsberufsgenossenschaft der gesetzlichen Unfallversicherung eine Handlungsanleitung entwickelt. Auf einer Plastikkarte im Postkartenformat sind in leicht verständlicher Form Symptome und Hinweise zusammengefasst, die dabei helfen sollen, eine Gehirnerschütterung zu erkennen und die richtigen Maßnahmen zu ergreifen.
Jeder Spieler mit Verdacht auf Gehirnerschütterung ist umgehend aus dem Spiel zu nehmen und darf nicht zur Aktivität zurückkehren, bevor er medizinisch untersucht worden ist", heißt es auf der Taschenkarte. Nach seinem Knockout im WM-Finale hätte Christoph Kramer folglich nicht wieder auf den Platz gedurft.
Auch Eishockey-Legende Stefan Ustorf spielte nach Gehirnerschütterungen in seiner Profizeit, etwa bei den Washington Capitals, weiter als sei nichts geschehen. 2011 erlitt er ein Schädel-Hirn-Trauma, seitdem plagen den heutigen sportlichen Leiter der Berliner Eisbären Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Gedächtnisprobleme und Stimmungsschwankungen. Früher seien Gehirnerschütterungen nicht als wirkliche Verletzung angesehen worden, sagte Ustorf im Interview mit Deutschlandradio Kultur. Es gab ein bisschen Riechsalz und dann musste es weiter gehen. Über die Folgen sei man sich nicht im Klaren gewesen, sagt der ehemalige Nationalspieler.
Heute weiß man mehr: Kommt es nach einer nicht ausgeheilten Gehirnerschütterung zu einem erneuten Zusammenstoß, kann das schlimme Konsequenzen haben und sogar tödlich enden – bekannt geworden ist diese Symptomatik unter dem Namen "Second Impact Syndrom". Stefan Ustorf sagte, auch im Fußball und im Vereinssport gelte es viel mehr auf dieses Problem aufmerksam zu machen.