Kontrolle der Rechtsstaatlichkeit

Matthias Kohring im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 17.04.2013
Im Zusammenhang mit dem NSU-Prozess hat der Kommunikationswissenschafter Matthias Kohring auf die wichtige Rolle der Medien hingewiesen. Sie hätten Öffentlichkeit herzustellen und den Prozess zu kontrollieren. Der Ausschluss türkischer Medien habe Zweifel am deutschen Rechtsstaat genährt.
Liane von Billerbeck: Am Montag kam die Meldung, dass der Prozess gegen die Rechtsterroristen der NSU verschoben wird. Die Presseplätze müssen neu vergeben werden, denn das Bundesverfassungsgericht hatte am Wochenende entschieden, dass auch drei türkische Journalisten im Gerichtssaal Plätze bekommen sollen, um den NSU-Prozess beobachten zu können. Zuvor hatte es heftige Debatten in den Medien gegeben und immer ging es dabei um den Begriff der Öffentlichkeit: Zu wenige Journalistenplätze würden die Herstellung einer ausreichend großen Öffentlichkeit gefährden, das Gericht sei dem öffentlichen Interesse nicht gerecht geworden. Anlass für uns, darüber mit Professor Matthias Kohring zu sprechen, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Mannheim. Ich grüße Sie!

Matthias Kohring: Guten Tag!

von Billerbeck: Welches Verständnis von Öffentlichkeit liegt denn solcher Kritik zugrunde?

Kohring: Ja, zumindest erst mal ein Verständnis, das davon ausgeht, dass es die Öffentlichkeit gibt. Und die Öffentlichkeit wird meistens dann gleichgesetzt mit einer unbeschränkten Sichtbarkeit, mit einem unbeschränkten Zugang zu dem Ort des Geschehens. In diesem Fall, könnte man aber sagen, geht es noch um ein anderes Verständnis von Öffentlichkeit: Wenn man davon ausgeht, dass es nicht die Öffentlichkeit gibt, sondern selbst im deutschen Kulturraum schon verschiedene Öffentlichkeiten, die ja auch durch verschiedene Medien bedient werden, fällt auf, dass hier eine Öffentlichkeit, nämlich eine Nationalöffentlichkeit, speziell die türkische, quasi von der Beobachtung dieses Prozesses ausgespart wurde. Ich glaube, darauf richtete sich ein Hauptteil der Kritik.

von Billerbeck: Welche Funktion hat denn Öffentlichkeit gerade in so einem Fall?

Kohring: In so einem Fall, würde ich sagen, hat Öffentlichkeit, wenn man es relativ abstrakt betrachtet, erst mal die Funktion, eine Kontrolle herzustellen, eine potenzielle Kontrolle dessen, was Spezialisten in ihrem speziellen Raum tun. In diesem Fall sind es Juristen, die Gerichtsbarkeit. Das heißt, die Stellvertreter aller Leser und Zuschauer, die Journalisten sorgen dafür, dass dieser Prozess sozusagen unter Beobachtung abläuft und auf diese Weise sozusagen auch Unregelmäßigkeiten zutage treten würden. Man könnte auch sagen, Journalisten überwachen das Vertrauen der Umwelt in diesem speziellen Bereich, nämlich die Rechtsstaatlichkeit. Und aus diesem Grunde, glaube ich auch, ist dieser Aspekt, dass ein bestimmter Teil der Öffentlichkeit, nämlich die nationale türkische Öffentlichkeit von Anfang erst mal ausgeschlossen war, besonders in den Fokus geraten.

von Billerbeck: Das heißt, man vertraut der deutschen Justiz nicht?

Kohring: Man könnte sagen, vor dem Hintergrund der Ereignisse, die ja jetzt schon sich über mehrere Jahre lang erstreckt haben, dass ein gewisser Zweifel daran besteht, ob die Rechtsstaatlichkeit in dieser Sache durchaus gegeben war. Die deutschen Medien haben sehr kritisch darauf reagiert, das ist lobend hervorzuheben. Dennoch ist es natürlich eine Frage, inwiefern jetzt das deutsche Gerichtswesen sozusagen mit diesem Problem, was auch die deutsche Rechtsstaatlichkeit betraf, gut umgeht. Und daher kann man auch verstehen, dass jede … auch nationale Öffentlichkeiten wie die türkische Öffentlichkeit sozusagen diese Kontrolle übernehmen wollen und sich sozusagen auch symbolisch ausgeschlossen fühlen. Man kann durchaus sagen, dass ein gewisser Zweifel gerade von türkischen Mitbewohnern, auch von der türkischen Öffentlichkeit besteht, dass die Deutschen mit diesem Problem, das sie selbst kreiert haben, auch rechtschaffen umgehen.

von Billerbeck: Das ist kein Wunder, bei den vielen Ermittlungspannen, die es gegeben hat im Falle der NSU! Trotzdem ist es ja so, dass der Prozess in den Medien eine große Rolle spielen wird. ARD und RTL werden Videomaterial zur Verfügung stellen, die einen frei, die anderen gegen Bezahlung. Ist das nicht genug Öffentlichkeit?

Kohring: Wenn ich das richtig verstehe, ist das Videomaterial ja nicht aus dem Gerichtssaal selbst. Wenn ich das recht sehe, ist ja das Filmen nicht erlaubt worden, auch jetzt nicht auf wiederholte Aufforderung. Das heißt, das ist Videomaterial, was vor und nach dem Prozess hergestellt wurde und das dann auch bereitgestellt werden kann, aber die direkte Beobachtung des Prozesses kann sozusagen nicht weitergegeben werden. Und dort sind die türkischen Vertreter und auch die griechischen übrigens nicht zugelassen. Das, glaube ich, ist ein wesentlicher Unterschied. Das Videomaterial sozusagen liefert einen beschränkten Zugriff nur auf diesen Prozess.

von Billerbeck: Nun ist es ja so, dass die Medien die Deutungshoheit darüber haben, was genug Öffentlichkeit ist und was nicht. Dahingegen haben die Argumente des Gerichts – also, das Verfahren könnte beeinflusst werden, wenn zu viele Zuschauer im Saal sitzen, oder das Urteil könnte angreifbar sein –, diese Argumente fallen da nicht so schwer ins Gewicht. Ist das nicht ein ungleicher Diskurs?

Kohring: Ich glaube, dass es in diesem Falle vor allem um die Herstellung einer Öffentlichkeit geht, die das Verfahren als solches kontrollieren kann. Und die Journalisten, wie ich gerade gesagt habe, beobachten diesen Prozess stellvertretend für die sogenannte breite Öffentlichkeit. Und demzufolge mag es schon ausreichen, wenn 50 oder 60 Medienvertreter dann eben auch ein bisschen besser verteilt im Gerichtssaal sitzen. Weil, die Öffentlichkeit, die sie herstellen mittels Rundfunk, Fernsehen und Printmedien, ist, glaube ich, dazu angetan, dass jeder, der möchte, sich darüber informieren kann. Ich glaube nicht, dass die Öffentlichkeit eine bessere ist, wenn nun statt 50 Privatpersonen 1000 Privatpersonen mit im Saal sitzen. Eine solche Öffentlichkeit, die dann mehr schon so an eine Sportveranstaltung erinnert, die könnte in der Tat angetan sein, auch einen Einfluss auf den Gerichtsprozess zu nehmen.

von Billerbeck: Das heißt, es geht um eine qualitativ hochwertige Öffentlichkeit?

Kohring: Ja, ich glaube, Größe ist in diesem nicht ein Qualitätskriterium, sondern es geht darum, dass eine zumindest symbolische Kontrolle über das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit hergestellt wird. Und dafür reicht der Journalismus auch, dafür ist er übrigens auch da.

von Billerbeck: Nun wissen wir ja, dass gerade spektakuläre Prozesse, wie dieser ja einer ist, auch kommerzielle Medieninteressen bedienen. Spielen die in dieser Debatte auch eine Rolle?

Kohring: Sicherlich. Ich glaube, man muss zwei Ebenen unterscheiden: Also, einmal geht es darum, aus einer Öffentlichkeitsperspektive sozusagen die Beobachtbarkeit dieses Prozesses sicherzustellen, und dafür reichen sicherlich 40 deutsche Medien und zehn türkische Medien aus. Wenn manchmal die Klage erhoben wird, dass das Verfahren der Akkreditierungsverteilung nicht fair abgelaufen sei, ist das eine andere Ebene, da geht es um den Konkurrenzkampf zwischen den Medien. Und da kann man natürlich sich in der Tat darüber beklagen, dass man vielleicht bei einem neuen Verfahren nicht zugelassen wird. Das ist ein Problem der Medien selbst, was ich jetzt gar nicht herunterreden möchte, aber das Problem der demokratischen Öffentlichkeit wird, glaube ich, dadurch nicht angetastet.

von Billerbeck: Deutschlandradio Kultur, der Kommunikationswissenschaftler Matthias Kohring ist mein Gast. Es geht um die Rolle der Öffentlichkeit in großen Verfahren wie dem gegen die rechten Mörder von der NSU. Wir haben ja einen anderen Prozess erlebt in letzter Zeit, nämlich den gegen den Rechtsterroristen Anders Breivik. Da gab es ja die Lösung für das Platzproblem, das war wie folgt: Wenn die Autopsie der Kinder verlesen wurde, die Breivik erschossen hatte, dann durften die jeweiligen Eltern im Gerichtssaal sein, und zusätzlich gab es in jeder betroffenen Gemeinde eine Videoübertragung, aber eben nur für die Überlebenden und Angehörigen. Wäre so eine begrenzte Öffentlichkeit in diesem Fall wie dem NSU-Prozess auch sinnvoll?

Kohring: Nun gut, das ist schon ein Spezialfall. Also, wenn es um die Betroffenen und Angehörigen geht, die ja einen relativ hohen Anteil der Zuschauenden darstellen als Nebenkläger, da verstehe ich schon das Begehren, als Betroffener tatsächlich daran teilnehmen zu können, kann ich sehr gut verstehen. Das ist mehr ein Interesse des privaten Erlebens, weil man selbst zu den Opfern gehört. Ich glaube, das sollte man davon trennen. Wenn das möglich wäre, wäre es sicherlich sinnvoll. Was ich glaube, was man auf jeden Fall ablehnen sollte, wäre eine generelle mediale Übertragung, also eine Fernsehübertragung, weil, glaube ich, eine Herstellung einer unbegrenzten Öffentlichkeit wie zum Beispiel bei einer Sportveranstaltung führt auch dazu, dass die Akteure sich anders verhalten, dass sie sich sozusagen auf einer öffentlichen Bühne verhalten, dass sie sogar eine Öffentlichkeit ansprechen. Und dann entsteht wirklich etwas, was man als medialen Druck bezeichnen kann oder als öffentlichen Druck, den wir jetzt so im deutschen Gerichtswesen noch gar nicht kennen.

von Billerbeck: Nun, selbst wenn die Angehörigen der Opfer der NSU im Saal sitzen: Wir haben es ja in den letzten Tagen gehört, da hat zum Beispiel der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag Sebastian Edathy davor gewarnt, sich von dem Prozess zu viel zu erhoffen. Wird nicht am Ende doch eine Enttäuschung stehen?

Kohring: Das mag sein, das hängt von den Erwartungen der einzelnen Prozessbeobachter ab. Ich glaube, was wichtig ist, ist, dass dieser Prozess überhaupt stattfindet, dass das deutsche Gerichtswesen, die deutsche Exekutive, der deutsche Staat, die deutsche Öffentlichkeit sich überhaupt mit diesem Problem offen beschäftigt. Und das hat auch einen symbolischen Wert, dass sie das tut, und deswegen finde ich es auch gut, dass das Gericht jetzt den Prozess der Akkreditierung komplett neu aufgerollt hat, anstatt – in Anführungsstrichen – nur drei weitere Plätze zu verteilen. Das hat zwei Vorteile: Einmal sind es nicht nur drei türkische Medien gegenüber vielleicht 30 oder 40 deutschen, das ist schon symbolisch ein Missverhältnis, zum Zweiten wäre auch ein gewisser Makel an dem Prozess haften geblieben.

Dieser Neuanfang hat gewissermaßen symbolischen Charakter und ich glaube, dieses Symbolische ist etwas ganz Wichtiges, was diesen Prozess begleiten wird, wie ein deutscher Staat, der eben wirklich tatsächlich auf eine Reihe von Pannen zurückblicken kann, damit umgeht, ob er lernfähig ist und ob er sich auch dieser Kritik stellt. Ich glaube, das wird ein Haupteffekt dieses Prozesses sein, ganz unabhängig von dem, was hinterher an tatsächlichen rechtskräftigen Urteilen herauskommt.

von Billerbeck: Das sagt der Mannheimer Kommunikationswissenschaftler Matthias Kohring. Ganz herzlichen Dank!

Kohring: Gerne, auf Wiederhören!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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