Konsumkritik

Schlaflos im Kapitalismus

Ein Mann liegt schlafend auf dem Ast eines Baumes.
Nickerchen im Sommer: Kostenlos, unproduktiv und deshalb ein Störfaktor? © dpa / picture alliance / Kolmikow
Von Ursula März · 17.11.2014
Unser Verhältnis zum Schlaf ist gestört. Wer schläft, konsumiert und produziert nicht. Wenig Schlafen wird daher heute zur Tugend verklärt - mit fatalen Folgen. Gleich mehrere Sachbücher dieses Herbstes und zwei Romane warnen vor den Folgen des kollektiven Schlafentzugs. Nicht zufällig waren Goethe und Einstein exzessive Langschläfer.
Die wissenschaftliche Schlafforschung kennt mittlerweile achtzig verschiedene Diagnosen, achtzig Varianten von Schlafstörungen. Allein dieser Befund macht deutlich, dass mit dem Schlaf in unserer gegenwärtigen Epoche etwas nicht stimmt, dass nicht nur der Schlaf selbst gestört ist, sondern das Verhältnis der Moderne zum Schlafen, zu jener Phase im alltäglichen Rhythmus des Menschen, in der er nichts tut, nichts leistet, nichts wahrnimmt, keine Verantwortung übernimmt. Schlafen heißt, sich für eine Weile abzumelden aus der Welt.
Der Kapitalismus schläft nicht
Dieses Passivprinzip des Schlafs steht allerdings im Widerspruch mit dem Steigerungsprinzip kapitalistischer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Denn der schlafende Mensch fällt als Konsument ebenso aus wie als Produzent und als kommunikativ Erreichbarer. In vielen beruflichen Milieus gilt heute derjenige, der am wenigsten Schlaf braucht, als Held und Vorbild. Bahn-Chef Rüdiger Grube glaubt, ihm genügten vier Stunden, Ex-Karstadt-Chef Thomas Middelhoff ließ Ähnliches verlauten. Der Held des Kapitalismus überwindet noch den eigenen Körper. Der Schlaf wurde in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr zur menschlichen Ressource, die es auszuschöpfen gilt. Schlafenszeit wird als Rohstoff angesehen, der abzubauen und in Arbeitszeit zu verwandeln ist. Verschlafene Zeit ist kein Geld.
Tag- und Nachtschichten rund um die Uhr, die Dauerbeleuchtung von Schaufenstern und Innenstädten, Satelliten, die mit Schirmen im Orbit Sonnenlicht auf die Erde lenken sollen, um für beständige Taghelle zu sorgen, die verschwimmenden Grenzen zwischen Tag und Nacht, zwischen hell und dunkel – all dies sind Indizien für einen kulturgeschichtlichen Prozess, der auf die Abschaffung des Schlafs zuläuft. Tatsächlich erforscht das US-Verteidigungsministerium seit längerem das Gehirn einer Vogelart, die fast ohne Schlaf auskommt, um dessen biochemische Funktionsweise auf Soldaten zu übertragen.
Horrorszenario der ewig Wachen
Autoren und Essayisten schlagen Alarm, um auf die wachsende Gefahr des kollektiven Schlafentzuges aufmerksam zu machen. In seinem Debütroman „Mehr als wir sind" phantasiert der Wissenschaftsbiograf Jürgen Neffe die Abschaffung des Schlafs als negative Utopie. Ein unbekannter Chemiker erfindet durch Zufall eine Pille, die das Schlafen erübrigt. Die neue Wachdroge revolutioniert die Welt. Sie setzt eine einzigartige, hoch beschleunigte Wachstumsphase in Gang, aber auch ein Horrorszenario der ewig Wachen. In Ulrike Kolbes Roman „Die Schlaflosen" begibt sich eine Gruppe von Menschen, die an Insomnia leiden, zu einem Seminar, wo sie lernen sollen, was eigentlich so selbstverständlich, so natürlich ist wie atmen: zu schlafen.
Gleich drei Sachbücher dieses Herbstes beschäftigen sich mit dem Phänomen. Jonathan Crary polemisiert und protestiert gegen die totalitäre Verfügbarkeit des nicht und zu wenig schlafenden Menschen.
Peter Spork entwirft einen Reformkatalog zur Verbesserung unseres Schlafs, er plädiert unter anderem für die Abschaffung der Sommerzeit, für späteren Unterrichtsbeginn an Schulen und variablen Arbeitsbeginn.
Hannah Ahlheim trägt als Herausgeberin eine Kulturgeschichte des Schlafs in der Moderne zusammen. Alle Autoren sind sich einig: Wer zu wenig schläft, schadet Psyche und Gehirn. Denn nicht durch Zufall waren Goethe und Einstein, mithin zwei Genies deutscher Kultur, exzessive Langschläfer. Goethe brauchte pro Nacht etwa zehn Stunden Schlaf. Einstein legte sich tagsüber mehrmals für ein Nickerchen ins Bett.
Literatur:
Jürgen Neffe: "Mehr als wir sind", C. Bertelsmann 2014, 416 Seiten, 19,99 EUR
Peter Spork: "Wake up", Hanser 2014, 248 Seiten, 18,90 EUR
Jonathan Crary: "24/7" ,Wagenbach 2014, 112 Seiten, 14,90 EUR
Ulrike Kolb: "Die Schlaflosen", Wallstein 2013, 200 Seiten, 19,90 EUR
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