Kongress in Hannover

Tänzer loten Grenzen aus

Mitglieder der Tanz-Company von Sidi Larbi Cherkaoui tanzen das Stück "Milonga".
Beteiligt am Kongress war auch der Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui - hier zu sehen das Stück "Milonga", getanzt von seiner Kompanie. © dpa / Jochen Lübke
Von Elisabeth Nehring · 19.06.2016
Sitzt ein wartender heterosexueller Mann genauso da wie ein wartender homosexueller Mann? Mit solchen Fragen hat sich der Tanzkongress in Hannover künstlerisch befasst. In den Workshops ging es um die Grenzen unseres Zusammenlebens - sexuell, ethnisch, gesamtgesellschaftlich.
Etwa 50 Workshopteilnehmer sitzen sich in zwei langen Reihen gegenüber. Je nachdem, welches Piktogramm auf der Leinwand über ihren Köpfen erscheint, ahmen sie verschiedene Körperhaltungen nach, zum Beispiel eine zurückgelehnte Sitzposition, in der ein Bein locker über das andere gelegt wird. Anhand feinster physischer Reaktionen kann man nun an sich selbst überprüfen, ob diese Körperhaltung zu den nacheinander eingeblendeten Aussagen passt: zum Beispiel "ein Mann wartet auf seine Frau". Beziehungsweise: "ein Mann wartet auf seinen Mann". Sitzt ein wartender heterosexueller Mann genauso da wie ein wartender homosexueller Mann? Oder gibt es Unterschiede im körperlichen Selbstverständnis zwischen hetero- und homosexuellen Männern? Die in diesem kleinen Spiel versteckten Fragen beantwortet jeder Einzelne – nicht intellektuell, sondern durch spontane innere Impulse, spürbar als Mikroreaktionen des Körpers.
Dieser Workshop "Choreografie und Konflikt" fand auf dem Tanzkongress im Rahmen der Reihe "Border Effects" statt, kuratiert von der Tanzwissenschaftlerin Sandra Noeth.
"Border Effects beschäftigt sich mit Grenzen, mit sehr konkreten, architektonischen, materiellen Grenzen, aber auch mit symbolischen, psychischen, physischen Grenzen, und die grundlegende Frage war eigentlich, ob und in welcher Weise Tanz und Choreographie Wissen liefern können oder Erfahrungen bereitstellen können, die uns hilft, Grenzziehungsprozesse anders zu verstehen."
Ob man – entgegen dem eigenen Selbstverständnis – nicht doch rassistische oder sexistische Stereotypen in sich trägt, konnte man im Workshop "Choreografie und Konflikt" am eigenen Leibe erfahren. Eine andere Übung ließ die Teilnehmer erleben, wie schnell jeder Einzelne von der Mehrheit in die Minderheit wechseln kann, sobald sich nur eine einzige Aussage ändert. Durch die ständige Neupositionierung aller Teilnehmer im Raum war auch das ein ganz unmittelbares körperliches Erlebnis. Entwickelt hat diese Übungen zur Konfliktforschung die ehemalige Forsythe-Tänzerin Dana Casperson.

Gesprächsformate dominierten

"Ich merke in Konfliktsituationen und auch vor Konfliktsituationen, dass Menschen die Hoffnungen verlieren. Alles erscheint sehr solid, unmöglich und dass sehr wenig Bewegung da ist. Und was ich gemerkt habe, dass die Technologien, die wir in der Tanzwelt benutzen, den Leuten helfen, in diesen Situationen durch den körperlichen Einsatz (...) anders zu denken."
Dana Caspersons Workshop übersetzte gesellschaftlich und politisch relevante Fragen in körperlich-impulsive Erfahrungen – ein gelungener, aber auch seltener Ansatz, beide Ebenen ganz konkret zusammenzubringen.
Daneben dominierten auf dem Tanzkongress 2016 die Gesprächsformate: Choreografen, Tänzer, Tanzwissenschaftler, Philosophen und Journalisten debattierten unter anderem über verschiedene Wege, sich der Tanzgeschichte anzunähern; über Werte und Normen, die die zahlreichen Tanzausbildungen bestimmen; über ethische Kriterien, die unter anderem die Vergabe von Subventionen oder die Förderung bestimmter Künstler beeinflussen; über die Vorteile des Arbeitens in Kollektiven und vergessene feministische Künstlerinnen. Und auch über unterschiedliche künstlerische Arbeitsweisen in europäischen sowie asiatischen, afrikanischen oder arabischen Ländern. Dass der vielbeschworene ‚kritische Diskurs über neokoloniale Praktiken’ trotz unbestreitbar guten Willens nicht immer befriedigend verlief, zeigte sich daran, dass auf einigen dieser Veranstaltungen vor allem die Europäer sprachen und die Gäste im Rahmen einer kleinen Performance tanzten.
Der etwas verunglückte Kongresstitel "Zeitgenoss*in sein", in dem zwar das Sternchen genderpolitisch korrekt eingesetzt wurde, dafür aber das "e" der männlichen Form gleich ganz wegfiel, bezog sich auf das weite Feld der Zeitgenossenschaft. Sandra Noeth.

Mehr Mut wäre gut

"Der Tanzkongress 2016 hat sich mit der Frage von Zeitgenossenschaft beschäftigt, mit in-der-Zeit-sein, was natürlich keine Frage ist, die nur auf Tanz und Choreographie begrenzt ist, sondern sehr viel weiter greift und das zeigt sich auch in den Einladungen, in den Referenten, die aus ganz verschiedenen Disziplinen kommen. In den ganzen letzten Jahren hat sich gezeigt in der künstlerischen Praxis, aber auch in den Diskursen um Tanz und Choreografie, dass es nicht darum geht, einen schnellen Kurzschluss zu machen zwischen Politik und Kunst und Sozialem und Kunst. Aber natürlich geht es darum, nach Anschlussmöglichkeiten zwischen künstlerischen Bewegungen und politischen, sozialen, privaten, öffentlichen, ökonomischen Bewegungen zu schauen. Und ich glaube, das ist etwas, was den ganzen Tanzkongress begleitet und auch öffnet über das ganze Feld hinaus."
Dass es auf dem alle drei Jahre von der Kulturstiftung des Bundes veranstalteten Tanzkongress also keineswegs ausschließlich und nicht einmal mehr überwiegend um Tanz als ästhetische Form und Bühnenkunst geht, ist absolut positiv zu bewerten. Gleichzeitig schleicht sich allerdings fast überall jene politische Korrektheit ein, die wenig Raum lässt für echte Auseinandersetzungen. Das kritische Denken, Reflektieren und Hinterfragen erschien in den meisten Debatten des Tanzkongresses eingepflegt in eine allgemeine Konsenskultur. Wünschenswert wäre mehr Mut, wirklich diametrale gesellschaftliche oder künstlerische Position zu- und vielleicht auch mal aufeinander loszulassen.
Mehr zum Thema