"Komprimat aus mehreren Kulturen"

Nenad Popovic im Gespräch mit Holger Hettinger · 11.08.2010
Der spanische Schriftsteller Jorge Semprùn hat sein Leben immer wieder riskiert, um dies am Ende in große Literatur umzugießen. Für Nenad Popovic, den Gründer des kroatischen Durieux Verlags, ist er "Vorbild" und vor allem "ein brillanter Autor". Jorge Semprùns Roman "Was für ein schöner Sonntag" wird im Rahmen der Reihe "Europäischer Kanon" vorgestellt.
Holger Hettinger: Und heute geht es um den Roman "Was für ein schöner Sonntag" von Jorge Semprún, ein Roman, in dem der spanische Schriftsteller mit autobiografischer Eindringlichkeit über die Schrecken des KZ-Alltags schreibt, und der seine Erlebnisse kontrastiert mit Überlegungen zu dem kulturellen Gedächtnis der Nation. Über allem schwebt die Frage, wie ein Volk, das Goethe hervorgebracht hat, eben auf Goethes Terrain, eine bestialische Schreckensmaschinerie wie die Konzentrationslager errichten kann. Über dieses Buch spreche ich gleich mit dem kroatischen Verleger Nenad Popovic. Zunächst hören wir den Beginn des Romans "Was für ein schöner Sonntag" von Jorge Semprún.

"’Kumpel, was für ein schöner Sonntag’, hat der Kumpel gesagt. Er betrachtet den Himmel und sagt zu den Kumpeln, dass es ein schöner Sonntag sei. Aber am Himmel sieht man nur den Himmel, die Schwärze des Himmels, die Finsternis des Himmels voller Schnee, der im Licht der Scheinwerfer herabwirbelt, ein tanzendes und frostiges Licht.

Er hat das mit übertriebenem Gelächter gesagt, als sagte er ‚Merde’, Aber er hat nicht ‚Merde’ gesagt, er hat gesagt: ‚Was für ein schöner Sonntag, Kumpel’, auf Französisch, beim Anblick des schwarzen Himmels um fünf Uhr morgens. Er hat ganz für sich allein schallend gelacht und nicht ‚Merde’ gesagt.

Hätte er übrigens ‚Merde’ sagen wollen, so hätte er ‚Scheiße’ gesagt, denn die wichtigen Wörter sind nicht französisch, auch nicht serbokroatisch oder flämisch, nicht einmal russisch, bis auf ‚Machorka’, ein beachtliches Wort. Man sagt ‚Scheiße’, ‚Arbeit’, ‚Brot’ – all die anderen wichtigen Wörter, auf Deutsch."


Hettinger: Der Beginn des Romans "Was für ein schöner Sonntag" von Jorge Semprún. Über dieses Buch spreche ich nun im Rahmen unserer Reihe "Europäischer Kanon" mit dem kroatischen Verleger Nenad Popovic. Ich grüße Sie!

Nenad Popovic: Guten Tag!

Hettinger: Herr Popovic, einer der eindringlichsten Momente in Semprúns Buch ist die Darstellung der unbegreiflichen Nähe des KZs Buchenwald zu den Städten der Weimarer Klassik, die Vernichtungsmaschinerie an genau dem gleichen Ort, an dem Goethe einst ganz idealistisch von dem Einswerden des Menschen mit seiner Umwelt fabuliert hat. Welche Wirkung hat das auf Sie?

Popovic: Hm, das sind Zynismen, die Semprún, der als junger Mann dort war, ich glaube, 20, als er verhaftet in Frankreich dann … Er wurde verhaftet, ist dann nach Buchenwald gekommen. Das hat ihm auch den Anstoß gegeben, dieses fantastische Buch zu schreiben über eine große Überlegung über das schreckliche 20. Jahrhundert mit seinen zwei Lagerkontinenten, eben dem kurzlebigen – Gott sei Dank – Kontinent der Nazi-Lager und dem leider langlebigen Gulag, dem sowjetischen Lagersystem, in dem Millionen Menschen umgekommen sind.

Hettinger: Semprún schöpft hier aus seiner eigenen Erfahrung, er, der großbürgerliche Intellektuelle im KZ in Buchenwald. Er lässt auch sehr tief und sehr eindringlich Einblicke zu in das, was man ganz salopp als Lagerhierarchie formulieren könnte. Lassen Sie uns darüber ein wenig reden. Wie schafft er es da, diese Eindringlichkeit so hervorzurufen?

Popovic: Er ist vor allen Dingen ein brillanter Autor, auch als Drehbuchautor für großartige Filme. Er hat die Möglichkeit und auch die schriftstellerische Kompetenz, ein sehr komplexes Thema anzusprechen, dass nämlich die innere Lagerverwaltung von Buchenwald überhaupt nicht von der SS geführt wurde, sondern von den Gefangenen selber, vor allen Dingen von den internierten deutschen Kommunisten. Und da beschreibt er dieses Leben in einer Grauzone, in einer Zwielichtzone, wo die Gefangenen selber entscheiden müssen zum Beispiel, wer zu welchem Arbeitseinsatz befohlen wird. Mancher Arbeitseinsatz bedeutete ja praktisch den Tod. Wer krankgeschrieben wird, wer verschont wird, wer mehr zu essen bekommt oder nicht.

Das war ein Spielraum, und das ist ein hochempfindliches Thema, das er meisterhaft darstellt in einer großen Farbigkeit über die Soziologie, also eine innere Soziologie dieses schrecklichen Ortes, in dem zum Beispiel die europäischen Kommunisten, Tschechen, Franzosen und Deutsche sozusagen eine kleine, bessere Stellung haben als die osteuropäischen, russischen Gefangenen. Darum geht ja auch der ganze Roman. Er beschreibt einen Tag, zwar einen freien Tag – denn sonntags zynischerweise hat man in KZs nicht gearbeitet, und über die Lautsprecher wurde Zarah Leander den Gefangenen vorgespielt. Und eigentlich der Roman beginnt zwar mit diesem Appell um fünf Uhr morgens, die Handlung spielt in einem Zimmer, das ist sogenannte Arbeitsstatistik, wo einige Gefangene ihren Tag verbringen.

Ein ganz besonderes Kapitel und ein Motiv in diesem Roman sind die Russen. Ich sage das in Anführungszeichen, denn so nennt Semprún sie auch, das ist übrigens auch der Jargon aus Buchenwald direkt. Die Russen, die ein Sonderleben als Fußvolk in diesem Lager führen, und dann im Frühling in Anführungszeichen sich befreien.

Dieses Innenleben kontrastiert dann Semprún mit dem Problem des Gulag, des sowjetischen Vernichtungssystems und Arbeitslagersystems, denn er versteht sein Buch als Antwort oder als ein komplementäres Buch zu zwei sehr wichtigen Werken über den Gulag. Und das ist einmal "Ein Tag aus dem Leben von Iwan Denissowitsch" von Alexander Solschenizyn, und dann "Die Geschichten aus Kolyma" von Warlam Schalamow. Und "Ein Tag aus dem Leben des Iwan Denissowitsch" muss man dann zu dem Titel setzen von Jorge Semprún und auch zu der Struktur des Buches "Ein Sonntag in Buchenwald", und auf der anderen Seite ein Sonntag in einem Arbeitslager jenseits des Polarkreises in der Sowjetunion.

Hettinger: Nenad Popovic, Sie haben die Figur des Jorge Semprún schon skizziert. Sie selbst haben den jugoslawischen Kommunismus kennengelernt, Sie haben den Krieg erlebt und Sie haben 1990 einen Verlag gegründet in Zagreb, den Durieux Verlag, und damit auch den zerfallenden Kulturen Jugoslawiens etwas entgegengesetzt. War Semprún, der ja auch mal drei Jahre Kulturminister von Spanien war, auch so eine Art, ja, Vorbild für Sie?

Popovic: Ja, eine Faszination, genauso wie Tilla Durieux, die deutsche Schauspielerin, die in Zagreb ihre Exilzeit verlebt hat, nach der wir diesen Verlag benannt haben. Und auf der anderen Seite Jorge Semprún, welcher ja erst mal zwei Namen hat: Er ist nämlich in Frankreich als "Georges Semprun" bekannt, er schreibt in Französisch – ein brillantes Französisch – einer der größten lebenden, französischen Schriftsteller, auf der anderen Seite dann auch ein spanischer Schriftsteller, er hat auch zwei Bücher in Spanisch veröffentlicht.

Mich persönlich fasziniert er als Gestalt, natürlich gibt es auch einige andere, aber er ist ein Komprimat aus mehreren Kulturen. Er ist in Spanien in einer aristokratischen Familie, Intellektuellen-Familie geboren. Die Familie hat fliehen müssen im Spanischen Bürgerkrieg, sie sind Emigranten in Paris, er geht dann dort zur Schule, schließt sich dem französischen Widerstand an, wird verhaftet, kommt nach Buchenwald eben, hat beste Deutschkenntnisse, was ihm ein Mal das Leben rettet.

Nach Buchenwald wird er militanter Kommunist, wird einer der Führer der spanischen KP, lebt eine Art Agentenleben in Madrid unter falschem Namen. Wird dann 1969 … wird er zum Dissidenten und einem großen Kritiker des Stalinismus, überhaupt des kommunistischen, marxistischen Dogmatismus.

Und dann macht er so großartige Sachen wie zum Beispiel das Drehbuch für den Film "Z" von Costa-Gavras, einer der wichtigen politischen Filme des letzten Jahrhunderts sozusagen, und schreibt ein Buch nach dem anderen. Ein mutiger Mensch, der auch abgerechnet hat mit seinen Dogmen, der in einem echten Widerstand war, der sein Leben immer wieder riskiert hat, um am Ende das in eine große Literatur umzugießen, wo eben das Erlebnis von Buchenwald eine zentrale Rolle spielt, eine fast metaphorische Rolle, oder so.

Wobei er natürlich ein großer Liebhaber der deutschen Kultur ist, der deutschen Sprache, also ohne jegliches Ressentiment, kommt immer wieder nach Deutschland, hat auch in der DDR seine alten Kameraden aus dem Lager zu besuchen. Also eine sehr vielfältige, reiche Person und ein großer Schriftsteller.

Hettinger: Schönen Dank! Das war der kroatische Verleger Nenad Popovic über Jorge Semprún. Sein Buch "Was für ein schöner Sonntag" war heute Thema in unserem "Europäischen Kanon". Nenad Popovic hat 1990 den Durieux Verlag in Zagreb gegründet. Seine Veröffentlichung aus dem Jahr 2008 "Kein Gott in Susedgrad", neue Literatur aus Kroatien, ist hier in Deutschland im Schöffling Verlag erschienen.

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