Komplizierte Schriftfolge

Von Ruth Kirchner · 01.08.2012
Die chinesische Schrift gilt als eine der komplexesten kulturellen Leistungen der Menschheit. Die damit beglückten chinesischen Kinder lernen Lesen und Schreiben in einer Sprache, die kein Alphabet kennt - in einem langwierigen Prozess.
Kinder in China müssen viel und lange lernen. In dieser Grundschule in der westchinesischen Provinz Qinghai sitzen 20 Schüler und lesen einfache Texte im Chor. Durch das Rezitieren der gemeinsamen Lektüre sollen sich nicht nur die Worte einprägen, sondern auch die dazugehörigen Schriftzeichen.

Denn im Chinesischen gibt es ja kein Alphabet, jedes Zeichen muss einzeln gelernt werden - und zwar sowohl die Bedeutung, als auch die Abfolge der Striche. Ein Zeichen sagt zudem nichts über dessen Aussprache aus. Auch das muss man sich einprägen.
"Kinder lernen zunächst die Grundelemente - also die einzelnen Striche, sagt die Pekinger Lehrerin A Yuan. Jeder Strich hat einen Namen. Heng steht für einen horizontalen Strich, shu für einen vertikalen. Diese Striche sind die Komponenten aller Schriftzeichen. Sie zu lernen ist einfach."
Mit den Grundstrichen - 12 bis 25 je nach Zählweise - lassen sich die meisten der 80.000-tausend chinesischen Zeichen schreiben. Wobei Kindern von Anfang an eingebläut wird, sich an die richtige Strichfolge zu halten. Die Hand soll irgendwann wie von alleine die Abfolge der Striche kennen.
"In der Strichordnung fängt man mit den horizontalen Linien an, dann folgen die vertikalen. Man schreibt jedes Zeichen von oben nach unten und von links nach rechts. Es ist, als baue man ein Haus. Welchen Abschnitt baut man zuerst, welchen später. Es gibt feste Regeln, die sind sehr wichtig."
Grundschüler fangen mit einfachen Zeichen an, die nur aus wenigen Strichen bestehen. Nach den ersten beiden Schuljahren sollen sie bis zu 1000 Zeichen lesen und schreiben können, nach dem Ende der 9-jährigen Pflichtschulzeit rund 3500. Aber bis es soweit ist, verbringen Schulkinder viel Zeit damit, die Strichfolgen und dazugehörigen Bedeutungen zu lernen. Denn chinesische Zeichen prägen sich nur ein, wenn man sie Dutzende vielleicht hunderte Male schreibt.
"Alles braucht Übung. Selbst wenn Du verstanden hast, worum es geht, ist das Lernen ohne Übung völlig nutzlos, sagt Lehrerin A Yuan."
Um zumindest das Lesenlernen in den Anfangsjahren ein wenig zu erleichtern, wird Grundschülern außerdem Pinyin beigebracht – das ist eine lateinische Umschrift des Chinesischen, sodass man die Aussprache eines Wortes leicht erkennen kann. Bei den ersten einfachen Texten, die die Schulkinder lesen, steht unter den Schriftzeichen jeweils noch der Text in Pinyin.

Irgendwann ist das nicht mehr notwendig, wenn man genügend Schriftzeichen beherrscht. Erst später wird Pinyin wieder wichtig, wenn man Textnachrichten oder auf dem Computer schreiben will. Der Computer erkennt nämlich dann, welches Schriftzeichen zu dem Wort gehören könnte.

Und da gleichen sich dann die Diskussionen in China und Deutschland. Denn auch in China lamentieren Eltern und Erziehungsexperten, dass mit der modernen Technologie das Wissen um die Kunst des Schreibens und die Bedeutung einer guten Handschrift langsam aber sicher verloren gehen.