Komplizenschaft und Zivilcourage

Manfred Gailus im Gespräch mit Phillipp Gessler · 23.03.2013
Der Berliner Historiker Manfred Gailus berichtet von gegensätzlichem Verhalten evangelischer Christen im "Dritten Reich". Da gab es den Nazi-Pfarrer Hoff, der sich als Seelsorger eines SA-Sturms betätigte ‒ aber auch die Studienrätin Schmitz, die nach der Pogromnacht 1938 ihren Dienst quittierte und in der Bekennenden Kirche aktiv wurde.
Philipp Gessler: Im zweiten Teil unserer heutigen Sendung von "Religionen" kehren wir nach Deutschland zurück, denn natürlich gibt es auch hier viel aufzuarbeiten, nach wie vor. Seit dieser Woche und noch bis Februar kommenden Jahres blickt die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg intensiv zurück in die eigene Geschichte und in die Geschichte der Volkskirchen in der NS-Zeit.

Zusammen mit der Gedenkstätte Topographie des Terrors veranstaltet diese Landeskirche eine Vortragsreihe mit dem Titel "Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933 bis 1945". Ein Mitorganisator und Hauptreferent dieser schmerzhaften Vortragsreihe ist der Berliner Historiker Manfred Gailus.

Mit ihm habe ich über zwei protestantische Gestalten dieser Zeit gesprochen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Auf der einen Seite der Berliner Pfarrer Walter Hoff, er kommt 1940 in die Wehrmacht und später an die Ostfront. Vor genau 70 Jahren, 1943, rühmt er sich in einem Brief an einen evangelischen Amtsbruder, er habe an der Front geholfen, viele hundert Juden zu liquidieren. Auf der anderen Seite steht Elisabeth Schmitz, über die Manfred Gailus ebenfalls ein Buch geschrieben hat. Schmitz war Studienrätin an einem Berliner Mädchengymnasium. In einer Denkschrift protestiert sie schon sehr früh, im Sommer 1935, gegen den sich anbahnenden Holocaust. Als vor 75 Jahren in der Reichspogromnacht die Synagogen brennen, ist sie darüber so schockiert, dass sie den Schuldienst quittiert. Erstaunlich offen schreibt sie in ihren Antrag auf Frühpensionierung: "Es ist mir in steigendem Maße zweifelhaft geworden, ob ich den Unterricht bei meinen rein weltanschaulichen Fächern, Religion, Geschichte, Deutsch, so geben kann, wie ihn der nationalsozialistische Staat von mir erwartet und fordert."

In dem aufgezeichneten Gespräch mit Professor Gailus habe ich ihn zunächst gefragt, ob solche Fälle wie der des Massenmörders und Pfarrers Walter Hoff häufiger auftraten.

Manfred Gailus: Also dies ist natürlich ein Extremfall, dass ein Pfarrer direkt berichtet, er habe im Osten in der Kriegszeit selbst teilgenommen an Liquidierungen von Partisanen, aber auch von Juden. Ein solcher Vorgang ist schon ein Extremfall. Aber es war möglich, es ist geschehen. Dieser Pfarrer, den Sie erwähnen, Walter Hoff, war einer der auffälligsten Nazi-Pfarrer in Berlin, kam etwa 1930 nach Berlin, war der frühe und stark engagierte Nazi-Pfarrer in Charlottenburg, hat zum Beispiel eine riesengroße Hakenkreuzfahne aus seinem Pfarrhaus gehängt, also in der Zeit vor 33, anlässlich der Wahlen. Er hat Belobigungen von Goebbels erhalten, er hat sozusagen als Seelsorger eines SA-Sturms in Charlottenburg gewirkt.

Dieser Pfarrer kommt 1936 an die Innenstadtgemeinde St. Petri als Probst von Cölln, Cölln als eine Urgemeinde des alten Berlins, also in kirchenleitender Funktion sogar. Er betätigt sich weiterhin in dieser Zeit sehr stark nationalsozialistisch, er ist zeitweilig als Leitungsmitglied im Berliner Konsistorium tätig, man berichtet, dass er dort gern in Uniform herumlief und so weiter. Zu Kriegszeiten, wenn er Urlaub hatte, besuchte er seine alte Arbeitsstätte, das Konsistorium, und rühmte sich da seiner Heldentaten im Osten. Einmal schrieb er einen Brief mit einer ganz konkreten Briefstelle, wo er sagt, er habe mitgeholfen, so und so viele Juden, also mehrere hundert, zu liquidieren. Er sagte das sogar mit einem gewissen Stolz, dass das also sozusagen mit zu seinem heldenhaften Kriegseinsatz im Osten gehörte.

Philipp Gessler: Das Schlimme ist ja, dass er später dann doch wieder Pfarrer werden konnte, nach dem Krieg.

Manfred Gailus: In der Tat, das ist für uns heute eigentlich unfassbar, unglaublich.

Philipp Gessler: Obwohl man es wusste, dass er das getan hat.

Manfred Gailus: Man wusste es. Es war in der frühen Nachkriegszeit dann die sogenannte Entnazifizierung, dieses war ja den Kirchen selbst überlassen, die kirchliche Selbstreinigung, wie das hieß, die sehr unvollkommen geschah. Im Fall von Pfarrer Hoff war es so, dass ihm zunächst die Rechte des geistlichen Standes aberkannt wurden, aber er hat immer wieder dagegen Eingaben gemacht, er hat seinen Fall immer wieder neu verhandeln lassen und es schließlich 1957 erreicht, dass ihm die Rechte des geistlichen Standes wieder zuerkannt wurden. Alle diese Vorgänge – aktenmäßig – sind der Berliner Kirchenführung bekannt gewesen, ich muss auch annehmen, sie sind auch Bischof Dibelius bekannt gewesen.

Pfarrer Hoff hat sich ja nicht mehr hier im Raum Berlin-Brandenburg aufgehalten, sondern im Westen – aus guten Gründen: Er fürchtete die Russen. Denn, so hat er auch nach dem Krieg geschrieben: Ich stehe auf einer Liste der Sowjets, und es wäre für mich, so sagt er, lebensgefährlich, in das Gebiet der Besatzungszone zu fahren. Aber er wurde sozusagen wieder installiert als Pfarrer. Es ging dabei natürlich auch um Pension, das heißt also, er hat zunächst die halben Ruhestandsbezüge erhalten, danach hat er, 70-jährig in Ruhestand wieder getreten ist, dann volle Bezüge erhalten. Alles dieses ist geschehen mit Wissen der Berliner, aber auch der Gesamtkirchenleitung, denn Dibelius war auch EKD-Ratsvorsitzender. Die Dinge sind auch vor EKD-zentralen Gremien verhandelt worden.

Betrachtet man diese Dinge aus heutiger Sicht, müsste man sagen, die Kirchenbehörden hätten hier eine Information an die Ermittlungsstelle in Ludwigshafen weiterleiten müssen, also Informationen an diejenige Stelle, die seit 1958 ermittelte im Fall von Kriegsverbrechen. Das wäre die angemessene Haltung gewesen. Es ist aber praktisch unter dem Teppich gehalten worden, und es soll auch dann später durch andere Kontakte Ermittlungen in Ludwigshafen gegeben haben, die aber zu keinem schlüssigen Ergebnis führten. Kurz und gut: Pfarrer Hoff starb im Jahre 1977, er ist weit über 80 Jahre alt geworden, hat seinen Ruhestand genießen können. Er erhielt Dankschreiben zu seinem 70. Geburtstag von der Landeskirche Hannovers. Das sind, aus der Rückschau, haarsträubende Dinge.

Philipp Gessler: Nun gab es ja – Sie haben ein Buch darüber geschrieben – diese erstaunliche Figur Elisabeth Schmitz, die schon sehr früh vor dem Judenmord gewarnt hat. Sie war dann später eine Art Galionsfigur für den Widerstand. Wird sie denn angemessen gewürdigt heutzutage?

Manfred Gailus: Ja, sie ist erst sehr spät entdeckt worden. Das ist ja eigentlich das Traurige. Ihr Wirken als Widerstand geschah im Stillen, in einer Frauenvernetzung, das waren Frauen, die in der Bekennenden Kirche, am Rande der Bekennenden Kirche wirkten, die auch kritisch zur Bekennenden Kirche standen. Ich würde Elisabeth Schmitz und ihre Mitstreiterinnen als protestierende Protestantinnen bezeichnen, das heißt also, sie waren nicht einverstanden, selbstverständlich nicht einverstanden mit den deutschen Christen, sie waren aber auch nicht einverstanden mit der Zurückhaltung und mit dem Schweigen der bekennenden Kirche. Man könnte hier von einer Politik des Schweigens sprechen, gegen die Elisabeth Schmitz immer wieder angerannt ist. Sie hat gesagt: Ihr müsst sprechen, ihr müsst die Dinge beim Namen nennen als Institution, als Bekennende Kirche.

Philipp Gessler: Warum wurde sie denn nach dem Krieg dann auch beschwiegen?

Manfred Gailus: Ja, das ist teilweise rätselhaft. Also es ist natürlich so, dass sie in den 30er-Jahren sozusagen keine prominente Figur war. Man kannte also sozusagen Elisabeth Schmitz auch in der Bekennenden Kirche nur in ausgewählten Kreisen, also wenn Sie die Bekenntnisgemeinde Dahlem nehmen, oder einige andere Bekenntnisgemeinden in Berlin. Da war sie bekannt, weil sie ja dort auch tätig war und dort hineinwirkte. Aber sie war sozusagen ein durchschnittlicher Zeitgenosse des Dritten Reiches. Sie war Historikerin, sie war Lehrerin, sie machte ihren Schulunterricht. Auch dort versuchte sie sozusagen, sie versuchte, zu vermeiden, nationalsozialistisch zu unterrichten im Dritten Reich, was ja nicht einfach war. 1938, als der Pogrom geschah, betrat sie die Schule nicht mehr. Das war für sie so unmöglich, auch so angreifend, dass sie von diesem Tage an nicht mehr die Schule betrat. Sie ließ sich krankschreiben, und einige Wochen später reichte sie ihr Gesuch ein der Pensionierung, vorzeitige, frühzeitige Pensionierung aus Gewissensgründen.

Erstaunlicherweise kam sie damit durch, war dann mit 45 Jahren frühpensioniert, war umso mehr engagiert in den Kriegsjahren dann im christlichen Widerstand. Bei Elisabeth Schmitz kann man wirklich einmal von christlichem Widerstand sprechen, in anderen Fällen weniger. Am Kriegsende ging sie zurück nach Hanau, ihrer Geburtsstadt. Das heißt also: Ihre ganze Bedeutung, ihre ganze Vernetzung, die war in Berlin. Berlin war zerstört, Berlin war, was die Personen betrifft, in alle Winde zerstreut. Viele lebten nicht mehr, viele waren weggegangen, so dass sie in Hanau eigentlich noch mal wieder von vorn anfangen musste. Als sie sich in Hanau erneut zum Schuldienst beworben hat, hat sie aber Unterlagen vorgelegt, unter anderem auch ihre Denkschriften, hat gesagt, das habe ich damals getan in Berlin. Mit anderen Worten: Die Stadt Hanau, die Schulverwaltung des Landes Hessen, die höheren Beamten wussten von diesen Dingen. Man hat es aber offenbar nicht als so außergewöhnlich angesehen. Also es kam eigentlich keine öffentliche Anerkennung in der Zeit.

Und sie selber hatte die Eigenschaft, nicht groß von ihren Sachen zu sprechen. Aus meiner Sicht ist sie eine Person, die die gleiche Bekanntheit und die gleiche Würdigung verdient wie die Namen Bonhoeffer, Niemöller, Gollwitzer oder Karl Barth oder andere. Das sind die Helden des Widerstands der Bekennenden Kirche, die man kennt, bezeichnenderweise bisher keine Frauen dabei, obwohl inzwischen gezeigt werden kann, dass eine ganze Reihe von Frauen, zum Beispiel in Berlin, höchst Bedeutendes geleistet hat, sehr klar die Dinge analysiert hat und sozusagen auf die gleiche Stufe gestellt werden müsste. Das ist heute eine Art Arbeit, die getan werden muss, sozusagen Gedenken und Erinnerung an diese Personen intensiv zu betreiben und dafür zu sorgen, dass in der Zukunft diese Persönlichkeiten, viele Frauen, die gleiche Anerkennung erfahren, wie es bislang in der Nachkriegszeit die berühmten Männer hatten.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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