Komplexe Probleme der reinen Mathematik

Von Irene Meichsner · 17.07.2012
Henri Poincaré veröffentlichte seine eigene Relativitätstheorie nur wenige Wochen vor Albert Einstein, dessen Erwähnung er ständig mied. Zu seinem Erbe gehört die Poincaré-Vermutung, deren Beweis erst 2002 gelang. Am 17. Juli 1912 verstarb der Mathematiker.
1904, ein Jahr bevor Albert Einstein seine spezielle Relativitätstheorie veröffentlichte, sprach Henri Poincaré zum ersten Mal vom "Prinzip der Relativität". In einem Vortrag während der Weltausstellung im amerikanischen Saint Louis prophezeite der 50-jährige Gelehrte, damals schon eine weltweit anerkannte Autorität, den Beginn einer neuen wissenschaftlichen Epoche.

"Sind die Prinzipien, auf denen wir alles erbaut haben, im Begriff einzustürzen? Allerdings, es sind Anzeichen einer ernsten Krisis vorhanden; es scheint, als ob wir uns auf eine nahe Umgestaltung gefasst machen müssten."

Jules Henri Poincaré, ein älterer Vetter von Frankreichs späterem Minister- und Staatspräsidenten Raymond Poincaré, kam am 29. April 1854 in Nancy als Sohn eines Medizinprofessors zur Welt. Nach dem Mathematikstudium an der Pariser École Polytechnique, einer französischen Elite-Universität, arbeitete er zunächst als Bergbau-Ingenieur. Mit 27 Jahren wurde er als Ordinarius für mathematische Physik und Wahrscheinlichkeitstheorie an die Pariser Sorbonne berufen. Poincaré löste komplexe Probleme der reinen Mathematik in Algebra und Geometrie. Schon früh interessierte er sich für erkenntnistheoretische Fragen. Poincaré verabschiedete sich von der Vorstellung einer absoluten Wahrheit.
"Eine Geometrie kann nicht richtiger sein als eine andere; sie kann nur bequemer sein",

schrieb er in seinem berühmten Buch "Wissenschaft und Hypothese". Poincaré sprach von einer "reinen Intelligenz", die fähig sei, die Schönheit und Harmonie einer mathematischen Lösung wahrzunehmen, und beschwor die Macht der Intuition.

"Seit 24 Tagen mühte ich mich ab, zu beweisen, dass es derartige Funktionen, die ich später 'Fuchs'sche Funktionen' genannt habe, nicht geben könne. Täglich setzte ich mich an meinen Schreibtisch, verbrachte dort ein oder zwei Stunden und versuchte eine große Anzahl von Kombinationen, ohne zu einem Resultate zu kommen. Eines Abends trank ich entgegen meiner Gewohnheit schwarzen Kaffee und ich konnte nicht einschlafen: Die Gedanken überstürzten sich förmlich; ich fühlte außerordentlich, wie sie sich stießen und drängten, bis sich endlich zwei von ihnen aneinander klammerten und eine feste Kombination bildeten. Bis zum Morgen hatte ich die Existenz einer Klasse von Fuchs'schen Funktionen bewiesen."

Poincaré beteiligte sich mit großem Engagement an den internationalen Bemühungen um eine Vereinheitlichung der Zeit- und Längenmaße. 1900 erklärte er bei einem Philosophenkongress in Paris:

"Es gibt keinen absoluten Raum, wir nehmen nur relative Bewegungen wahr. Es gibt keine absolute Zeit. Die Behauptung, dass zwei Dinge gleichzeitig ablaufen, beruht bloß auf einer Konvention."

1905 präsentierte Poincaré der französischen Akademie der Wissenschaften eine Abhandlung mit einer eigenen, noch unvollständigen Relativitätstheorie. Als Albert Einstein wenige Wochen später seine bahnbrechende Arbeit publizierte, reagierte er reserviert. Vielleicht sei Poincaré pikiert gewesen, weil Einstein ihn nicht zitierte. Vielleicht habe ihn das Thema auch nicht mehr interessiert, überlegt Albrecht Fölsing in seiner Einstein-Biografie.

"Gewiss ist nur, dass er die Erwähnung schon von Einsteins Namen mied wie der Teufel das Weihwasser, wann immer er in den folgenden Jahren noch auf das Relativitätsprinzip zu sprechen kam."

Persönlich sind sich die beiden nur einmal begegnet: 1911 bei der ersten Solvay-Konferenz, einem Gipfeltreffen der Physiker in Brüssel.

"Pioncaré war (gegen die Relativitätstheorie) einfach allgemein ablehnend",

schrieb Einstein danach an einen Freund. Wenige Monate später, am 17. Juli 1912, starb Poincaré in Paris an einer Embolie nach einer Operation. Zu dem Erbe, das er den Mathematikern hinterließ, gehörte die "Poincaré-Vermutung" - ein offenes Problem aus der mathematischen Topologie, für dessen Lösung das amerikanische Clay Mathematics Institute im Jahre 2000 eine Prämie von einer Million US-Dollar auslobte.

Der Beweis gelang 2002 dem russischen Mathematiker Grigori Perelman. Er machte weltweit Schlagzeilen, weil er das Preisgeld ausschlug, seine Stelle am St. Petersburger Steklov-Institut kündigte und sich völlig zurückzog. Perelman lehnte auch die "Fields-Medaille" ab. Sie ist das mathematische Pendant zum Nobelpreis, der dem großen Henri Poincaré versagt geblieben war.