Kommentar

Nur eine kurze Pause zum Luftholen

Flüchtlinge stehen auf dem Dach der besetzten ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule.
Flüchtlinge stehen auf dem Dach der besetzten ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule. © picture alliance / dpa
Von Ellen Häring · 03.07.2014
Erst wenn verzweifelte Menschen drohen, vom Dach zu springen, kommt Bewegung in diese Berliner Asylangelegenheit. Das sollte Anlass sein, in Deutschland über neue Lösungen für Flüchtlinge nachzudenken.
Grade noch mal die Kurve gekriegt – die grüne Kreuzberger Bezirksregierung kann aufatmen, jedenfalls kurzzeitig. Die 40 Flüchtlinge, die sich seit Tagen auf dem Dach einer besetzen Schule verschanzt haben und drohten, sich herunterzustürzen, dürfen vorerst weiter das dritte Stockwerk des runtergekommenen Gebäude bewohnen. Über die Forderungen der Flüchtlinge wird verhandelt, das wird versprochen. Dabei steht jetzt schon feststeht, dass ihre Chancen auf ein Bleiberecht gegen Null tendieren, wenn die Gesetze nicht großzügiger interpretiert werden.
Mehr als eine kurze Pause zum Luftholen ist das aber nicht. Wie in einem Brennglas zeigt sich das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik an diesem Beispiel. Wer es auf einem Gummiboot trotz Frontex und rigider Abschiebepolitik bis in eine Schule nach Berlin-Kreuzberg geschafft hat, der geht nicht mehr zurück – in den Sudan zum Beispiel, wo offenbar viele der Männer und Frauen auf dem Dach herkommen. Sie haben nichts, überhaupt nichts mehr zu verlieren. Und die Drohung, dass sie sich in den Tod stürzen werden, wenn sich niemand ernsthaft mit ihrer Not beschäftigt, ist keine Erpressung. Es ist der verzweifelte Aufschrei von Menschen, die leben wollen.
Die Politik hat versagt
Der Berliner Senat, die Kreuzberger Bezirksregierung, sie haben beide versagt. Der Senat, weil er nichts anbietet außer sturer Rechthaberei und den Hinweis auf Gesetze, die überholt sind. Die Grünen in der Bezirksregierung, weil sie eine Teilschuld an dem Elend haben.
Seit eineinhalb Jahren ist die Schule besetzt und es geschah nichts. Flüchtlinge, Obdachlose, Drogenabhängige, Roma-Familien, bulgarische Wanderarbeiter lebten hier zusammen unter verheerenden Zuständen: zwei Duschen, kein Kochmöglichkeit, Ratten, Schimmel, Gestank.
Aus Gleichgültigkeit resultierte die totale Vernachlässigung
Instrumentalisiert wurden sie von Anfang an von einer Gruppe sogenannter autonomer Linker. Es kam wie es kommen musste: Zuerst waren es Schlägereien, dann Messerstechereien und schließlich geschah ein Mord. Die Kreuzberger Bezirksregierung fand zu allem beschwichtigende Worte und unternahm unter dem Deckmantel der Toleranz NICHTS. Dabei war die Grenze zwischen Toleranz und Gleichgültigkeit längst überschritten und mehr noch: Aus Gleichgültigkeit resultierte die totale Vernachlässigung eines massiven Problems mitten im Bezirk.
Jetzt, wo verzweifelte Menschen drohen, vom Dach zu springen, geschieht etwas. Es ist nun Aufgabe des Senats und des Bezirks, Organisationen und Rechtshelfer zu finden, die diesen Menschen tatsächlich helfen können, weil sie Erfahrung in Asylfragen haben. Diese Expertise gibt es im Bezirk, in der Stadt und im ganzen Land. Es ist Zeit, sie zu hören – auch wenn dies die europäische Flüchtlingspolitik insgesamt nicht besser macht. Die Vorfälle in Kreuzberg können Anlass sein, in unserem Land über neue, kurzfristige, auch individuelle Lösungen für Flüchtlinge nachzudenken. Denn in Bayern oder Hessen kann jederzeit dasselbe passieren.