Kommentar

Kein Aufstand der Anständigen

Ein Hakenkreuz und ein durchgestrichener Davidstern sind am 09.06.2013 an einer Gedenkstätte am Nordbahnhof in Berlin zu sehen.
Ein Hakenkreuz und ein durchgestrichener Davidstern waren 2013 an einer Gedenkstätte in Berlin zu sehen. © picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt
Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 14.09.2014
Dass sich gegen die antisemitische Welle in diesem Sommer in Deutschland kaum Widerstand regte, empört Kirsten Serup-Bilfeldt. Das Verhalten der - meist prominenten - Deutschen zeige: Sie haben nichts aus der Geschichte gelernt.
Seit Wochen sucht man sie vergebens - all die, die immer zur Stelle sind, wenn es darum geht, sich gewisse symbolträchtige Daten in der deutschen Erinnerungskultur ins Gedächtnis zu rufen: diejenigen, die jedes Jahr am 9. November oder am 27. Januar ihr volltönendes "Nie wieder" auf ihr Publikum niederprasseln lassen.
Augenblicklich scheinen sie mehrheitlich abgetaucht zu sein: die Dauerversöhner und Berufsbetroffenen, die "Erlebnispädagogen", die eine wahre Invasion von Zeitzeugen in die Schulen einladen und Klassenfahrten nach Auschwitz organisieren, die Wohlmeinenden und die Sonntagsredner, die nie müde werden, bei solchen Veranstaltungen "Mut", "Zivilcourage" und "Solidarität" zu beschwören.
Die Deutschen sind davon überzeugt, "aus der Geschichte gelernt" zu haben. Sie haben "bewältigt" und "aufgearbeitet". Und das in einem Maße, das, schon an eine "Olympiade der Betroffenheit" grenzt, wie Ulrike Jureit und Christian Schneider in ihrem Buch "Gefühlte Opfer" schreiben. Die Lehre vom "Nie-wieder-Wegschauen" ist zu einer volkspädagogischen Grundkonstante geworden.
Allenfalls vereinzelter Widerstand
Nur - genutzt hat sie offenbar nichts. Denn wie sonst wäre es möglich, dass dieses Land augenblicklich die böseste, die widerwärtigste Welle von Judenhass seit 1945 erleben muss?
Da brüllt auf einer Kundgebung gegen den Gaza-Krieg ein entfesselter Mob unter den Augen einer großen Öffentlichkeit - und der Polizei - "Hamas, Hamas, Juden ins Gas". Da werden Juden als "Kindermörder" und die israelische Armee als "Mörderbande" diffamiert, israelische Fahnen verbrannt, Menschen, die Flugblätter zur Solidarität mit Israel verteilen, werden bedroht, müssen mit Pöbeleien und Gewalttätigkeiten rechnen. Längst gibt es Empfehlungen für jüdische Männer, in der Öffentlichkeit auf das Tragen der Kippah zu verzichten. Sie könnten Leib und Leben riskieren.
Und was folgt? Lichterketten? Mahnwachen? Ein genereller Aufschrei der Empörung? Quer durch alle Bevölkerungsschichten? Kundgebungen? Massendemonstrationen? Hirtenworte von den Kanzeln? Nichts davon.
Es dauerte fast peinlich lange, bis sich Widerstand regte. Hier und da. Von - vereinzelten - Politikern und - vereinzelten - Kirchenvertretern. Von einer breit angelegten öffentlichen Widerstandsbewegung, einer Art "Aufstand der Anständigen" kann jedenfalls keine Rede sein.
"Freunde in der Not gehen tausend auf ein Lot", heißt ein Sprichwort. In diesen Tagen wäre die Bewährungsprobe für all die jahrzehntelangen Lippenbekenntnisse fällig gewesen.
Broder: Deutsche sind auf tote Juden fixiert
Dass genau das nicht passierte, ist etwa für Henryk M. Broder nicht weiter verwunderlich. Hierzulande, so seine These, sei man nämlich überwiegend auf tote Juden fixiert:
"Sich mit toten Juden zu solidarisieren ist eine wohlfeile Übung. Man kann die Ermordeten weder noch einmal umbringen noch nachträglich retten. Aber falls jemand doch so etwas wie „Verantwortung" verspürt, was im Prinzip nicht verkehrt ist, sollte er sich mit denjenigen solidarisch erklären, die heute leben. Und am Leben bleiben wollen..."
Deutschland hat gefühlte 80 Millionen "Nahostexperten". "Israelkritik" unterschiedlichster Ausprägung ist zu einer Art Volkssport geworden. Diesen Volkssport betreiben inzwischen durchaus auch feinsinnige Zeitgenossen: Intellektuelle, Wissenschaftler, Medienvertreter. Sie sind davon überzeugt, Humanisten zu sein und würden sich jederzeit angewidert von neonazistischen oder islamistischen Krawall-Antisemiten distanzieren. Und doch verwenden sie dieselben ganz alten, klassischen antisemitischen Stereotypen.
Gegenwehr aus der Israelitischen Kultusgemeinde München
Da fantasiert etwa ein - als "Nahostexperte" vorgestellter - Jürgen Todenhöfer von einem Rachefeldzug Israels und begibt sich auf das glatte Parkett antisemitischer Klischees. Doch dann geschieht etwas Ungewöhnliches, das den Ernst der Situation deutlich macht: der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch reißt der Geduldsfaden!
In einem offenen Brief schreibt sie an Todenhöfer:
"Mir ist unbegreiflich, wie verantwortungsvolle und seriöse Medien Ihnen ein Forum bieten können, um Ihre Anschauungen zu verbreiten, die offensichtlich jeden Bezug zur Realität verloren haben. Noch erschreckender ist es jedoch, dass Sie Ihre verschobene Wahrnehmung und Ihre bizarre Sicht der Dinge ungebremst der Öffentlichkeit als absolute Wahrheit verkaufen dürfen. Hier müssten eigentlich sorgfältige Journalistenkollegen Sie vor sich selbst - aber auch Ihre Zuhörer und Leser - vor Ihren Vorstellungen beschützen..."
Deutlich wird: Die viel gerühmte deutsche "Geschichtsaufarbeitung" hat versagt. Das immer wieder beschworene "Lernen aus der Geschichte" ist gescheitert, denn die Beschäftigung mit der Vergangenheit bleibt völlig einfluss- und folgenlos für die Gegenwart.
All die Aktionen und Appelle gegen Antisemitismus, die an Gedenk- und Feiertagen inflationär bemüht werden, sind nutzlos und inhaltsleer, solange sie nicht das Sicherheitsbedürfnis und das Existenzrecht des jüdischen Staates anerkennen.
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