Kommentar

Die Selbstgerechtigkeit des Toleranz-Geschwafels

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Bei Toleranz geht es heute vor allem um die Umsetzung, meint Arno Orzessek © picture alliance / zb / Andreas Franke
Von Arno Orzessek  · 18.11.2014
Oft ist sie nur ein warmes Wort oder eine Prunk-Vokabel, die gegen Einspruch immun ist: Wer "Toleranz" proklamiert, steht automatisch auf der richtigen Seite. Doch das ist oft nur getarnte Selbstgerechtigkeit. Dabei ist sie gerade kein sozialer Weichspüler, sondern verpflichtet zum Streit um Überzeugungen.
"Was ist Toleranz? Toleranz ist die Mitgift der Humanität." Das hat der französische Aufklärer Voltaire behauptet. Seine Definition klingt noch heute so elegant, dass man sie in jeder Sonntagsrede zur Verherrlichung der Toleranz zitieren könnte. Doch Vorsicht! Voltaire hat nicht etwa gesagt, Toleranz sei der rhetorische Schmuck der Humanität - sondern deren Mitgift. Eine Mitgift aber bestand, solange dieser Begriff seine starke Bedeutung besaß, aus handfesten Sachen: aus Geld und Gütern und Hausrat. Darum ist im Blick auf Voltaires Sentenz zu beachten: Eine Mitgift, die kostet etwas. Und zwar grundsätzlich etwas anderes als warme Worte.
In der Öffentlichkeit jedoch wird Toleranz oft eben dazu degradiert: Zu einem warmen Wort und einer humanitätsduseligen Prunk-Vokabel, die gegen Einspruch immun ist. Wer "Toleranz" proklamiert, steht automatisch auf der richtigen Seite - und umso sicherer, als Toleranz ja immer den vornehmen Umweg über den Andersdenkenden nimmt. So lässt sich die latente Selbstgerechtigkeit des blühenden Toleranz-Geschwafels recht hübsch tarnen.
Kaum nötig zu sagen: Politiker, die sich in öffentlicher Rede für Intoleranz einsetzen, hat es außerhalb extremistischer Parteien in Nachkriegs-Deutschland selten gegeben... Wohl aber intolerante Politiker jeder Couleur genauso wie intolerante Bürger jeder Weltanschauung. Auf Beispiele sei hier verzichtet. Nur so viel: In der Differenz zwischen Worten und Taten liegt das Problem.
Härtester Meinungskampf - aber nicht aufs Messer
Ja, Toleranz ist ein längst etabliertes Konzept zur sozialen Befriedung. Nicht umsonst findet man den Begriff "Toleranz", der in den Rechtsnormen des Heiligen Römisches Reiches noch eine wichtige Rolle spielte, im Grundgesetz kein einziges Mal. Es geht allein um die Umsetzung. Wir können die Gültigkeit des Toleranz-Edikts, das sich die sogenannte offene Gesellschaft auferlegt hat, durch weitere Beschwörungen nicht mehr steigern. Sondern nur durch Haltung und Handlung.
Das bedeutet übrigens nicht, dass man in öffentlichen Angelegenheiten jeden nach seiner Fasson selig werden lässt. "Toleranz" bezieht sich allein auf die Integrität der Person des Andersdenkenden, keineswegs auf jede seiner Überzeugungen. Auch dem Tolerantesten ist der härteste Meinungskampf erlaubt - nur eben nicht bis aufs Messer. Wer entschieden tolerant, aber in politischen Dingen nicht unentschieden sein will - der sagt im Zweifel: "Ich erdulde Dich als Person, aber ich bin keineswegs bereit, deine Position zu erdulden." So verstanden, ist Toleranz kein sozialer Weich- und Gleichmacher, der alle in laue Harmonie bettet - sondern die unverzichtbare Lizenz zum Streit um handfeste Werte.
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