Kommentar

Der ARD ist der ESC-Geist fremd

Thomas Schreiber Programmleiter im Bereich Fiktion & Unterhaltung beim NDR Fernsehen sowie ARD-Unterhaltungskoordinator; Aufnahme vom Mai 2011
Thomas Schreiber ist Programmleiter im Bereich Fiktion & Unterhaltung beim NDR Fernsehen sowie ARD-Unterhaltungskoordinator: Er verantwortet die Entscheidung, dass Xavier Naidoo 2016 für Deutschland am ESC teilnimmt. © picture alliance / dpa
Von Tarik Ahmia · 19.11.2015
Die ARD will Xavier Naidoo zum Eurovision Song Contest schicken. Die sozialen Netzwerke schäumen. Beim ESC gehe es um Spaß, Kunst und Talent und nicht darum, den Rest Europas mit Entschlossenheit und Befehlskultur zu dominieren, meint Musikredakteur Tarik Ahmia.
Bei der ARD wird jetzt mal wieder durchregiert:
Wozu sich die Mühen eines langen Auswahlverfahrens aufbürden, wenn "ARD-Unterhaltungskoordinator" Thomas Schreiber Deutschlands Kandidaten für den Eurovision Song Contest auch per Dekret festlegen kann?
"Die Partei, die Partei die hat immer Recht" – mag Schreiber bei seiner Anordnung das alte SED-Lied gesummt und heimlich in sich hineingegrinst haben.
Immerhin versteht der ARD-Mann ja offenbar so viel von Musik, dass er sich nicht mit etwas so Lästigem wie der Publikumsmeinung aufhält.
Noch dazu, wenn er einen so auserwählten Botschafter ins Rennen schickt, der schon in seinem Vornamen als "Erlöser" - "Saviour" – daherkommt?
Saviour Naidoo sei direkt nominiert worden, weil er ein "Ausnahmekünstler sei, der seit 20 Jahren seinen Platz im deutschen Musikleben habe.", sagte Schreiber. Ob der Sänger überhaupt ein passendes Lied auf Lager hat, ist für Schreiber eine Randnotiz.
Ebenso die etwas merkwürdige Außenwirkung, die die Entscheidung für Naidoo vermitteln könnte: Denn gerne spricht der "Erlöser" auch mal vor selbsternannten "Reichsbürgern", weil "Deutschland noch immer ein besetztes Land sei", so Naidoo.
Recht hat ein Twitter-Nutzer deshalb, der heute schrieb:
"Immerhin gibt Deutschland dann mit brennenden Flüchtlingsheimen, Pegida-Demos und Naidoo beim ESC ein einheitliches Bild nach Außen ab."
Spaß, Kunst und Talent
Zumindest schlechter als beim diesjährigen ESC in Wien kann es in Stockholm nicht laufen, als die Sängerin Ann Sophie unter Schreibers Leitung letztplatziert mit Null Punkten nach Hause fuhr.
Dennoch ist es schade: Was hätte der deutsche Vorentscheid für ein unterhaltsames Spektakel für Groß und Klein werden können? Mit Popcorn und Beamer, eigenen Bewertungslisten und Mitfiebern, wer am Ende nach Stockholm fährt?
Selbst ohne neue Lena-Mania: ein Bundes-Casting wäre die beste Chance gewesen, tatsächlich noch das eine oder andere überraschende Talent zu entdecken.
Aber das interessiert die ARD-Verantwortlichen wohl nicht: Über all die Jahre ist ihnen der Geist des ESC fremd geblieben. Hier geht es um Spaß, um Kunst und Talent und nicht darum, den Rest Europas mit Entschlossenheit, Disziplin und Befehlskultur zu dominieren.
Die Vorauswahl für den Gesangswettbewerb bleibt in den Händen der ARD ein nicht enden wollendes Katastrophenmanagement: mutlos und vor allem darauf bedacht, alles zu vermeiden, was den komatös-vorhersehbaren Ablauf dieser eigentlich trutschigen Veranstaltung gefährden könnte.
Das Fremdschämen für die ARD ist zur Konstante geworden. Pop-Kultur als Domaine von Programmgremien zu betrachten ist hier offenbar eine tief verwurzelte Überzeugung.
Erst Stefan Raab brachte Leben in das Reich des Zombie-Pop vom ESC. Die Rampensau von Pro 7 führte damit auch genüsslich vor, das sich aus diesem Schaulaufen mancher musikalischen Geschmacksverirrung durchaus etwas machen lässt, wenn man es denn kann.
So inszeniert sich der "Unterhaltungskoordinator" Thomas Schreiber wieder einmal als Totengräber eines Eurovision Song Contest, der originell und überraschend sein könnte.

Schade, es hätte so schön werden können!
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