Kolumbien

Klassische Musik und lateinamerikanische Rhythmen

Open Air auf dem Plaza San Pedro - tausende kommen jedes Jahr nach Cartagena.
Open Air auf dem Plaza San Pedro - tausende kommen jedes Jahr nach Cartagena. © Festival International de Música
Von Philipp Eins · 12.01.2014
Tausende Besucher strömen jedes Jahr in die kolumbianische Küstenstadt Cartagena, wenn dort das Festival International de Música stattfindet. Es verbindet auf einzigartige Weise Klassik mit Rhythmen des Kontinents.
Wenn die Nacht über der Karibik hereinbricht, erwacht die kolumbianische Küstenstadt Cartagena zum Leben. Pferdekutschen, Fahrradfahrer und Passanten drängen durch die engen Gassen zum Plaza de Bolívar, dem Zentrum der Stadt. Zwischen Palmen und Gummibäumen warten Händler mit bunt geschmückten Handkarren auf Kundschaft. Die Tische vor den Restaurants in den zweistöckigen, pastellfarbenen Kolonialbauten sind bis auf den letzten Platz belegt. Die Luft ist stickig und schwül.
Auch wenn die Straßen in Cartagena fast jede Nacht belebt sind – wegen des „Festival International de Música“ ist der Andrang dieser Tage besonders groß. Mit 18.000 Besuchern ist es eines der bedeutendsten dieser Art. Klassische Werke von Ravel, Stravinsky und Debussy stehen hier ganz selbstverständlich neben lateinamerikanischer Musik auf dem Programm. Eine wilde Mischung – die auch den besonderen Reiz ausmacht, sagt Veranstalterin Julia Salvi.
"Europäische Klassik und lateinamerikanische Musik mögen unterschiedlich sein – aber beide Stile ergänzen sich. Viele Musiker aus Südamerika werden von europäischen Komponisten inspiriert, die sich wiederum der Rhythmen lateinamerikanischer Musik bedienten. Das Festival ist eine Suche nach den Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gattungen – und zwar auf hohem musikalischen Niveau."
Neben dem Orpheus Chamber Orchestra aus den USA treten auf dem Festival Ensembles und Solokünstler aus Kolumbien, Argentinien, Italien, Frankreich und Mexiko auf. Zwei bedeutende Grenzgänger zwischen klassischer und populärer Musik sind die brasilianischen Gitarristen Sérgio und Odair Assad. Die beiden Brüder aus São Paulo adaptieren Stücke aus aller Welt für die Gitarre – und scheren sich dabei nicht um die Konventionen der Musikwissenschaft.
Balance zwischen starken Melodien und kompositorischer Struktur
In Brasilien wie überhaupt in Lateinamerika sei die Grenze zwischen klassischer und traditioneller Musik fließend, sagt Sérgio Assad. In ihrer Arbeit sei es ihm und seinem Bruder ein wichtiges Anliegen, beiden Gattungen die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken.
Prägend für beide Gitarristen war die Begegnung mit dem Werk des argentinischen Komponisten und Bandoneon-Spielers Astor Piazzolla. Bereits in ihrer Kindheit begegneten die Brüder Assad dem Komponisten, der im Haus ihres Vaters – ebenfalls ein Musiker – ein gern gesehener Gast war. Bis zu seinem Tod 1992 arbeitete Piazzolla eng mit den Brüdern zusammen.
An der Musik von Astor Piazzolla schätze er die Balance zwischen starken Melodien, Harmonien und kompositorischer Struktur, sagt Sérgio Assad. Das alles finde man in dessen populären Stücken wie in der klassischen Musik. Für ihn sei Piazzollas Werk daher ein Stück Klassik mit argentinischen Wurzeln.
In zwei Welten unterwegs ist auch der 28-jährige Kontrabassist Mario Criales aus der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. Mit dem dreiköpfigen Agile Ensamble bewegt auch er sich musikalisch zwischen lateinamerikanischen Rhythmen und europäischer Klassik. Einen Widerspruch sieht er darin nicht, sagt er.
Stimmung wie auf einem Volksfest
Als er sich für den Kontrabass entschieden hat, wusste er, dass dies ein Instrument mit europäischer Tradition ist, erzählt Criales. Während des Studiums habe er sich dem Instrument genähert wie einer fremden Sprache und in den Sonaten europäischer Komponisten schließlich dessen Potenzial entdeckt. Im Herzen aber fühle er sich weiterhin als kolumbianischer Musiker. Beide Ebenen möchte er in seiner Arbeit vereinen.
Und wie kommt es, dass die Menschen hier in der tropischen Hitze so begeistert der Klassik lauschen? Veranstalterin Julia Salvi:
"In den vergangenen 15 Jahren hat die kolumbianische Regierung in die musikalische Bildung von Kindern und Jugendlichen investiert. Mehr als 170.000 Kinder sind an Musikschulen im ganzen Land eingeschrieben. Dort lernen sie die Musik großer europäischer Komponisten kennen. Das hat auch bei deren Eltern und Verwandten zu einem enormen Interesse für die Klassik geführt – und erklärt die steigende Nachfrage nach Festivals wie dem in Cartagena."
Tatsächlich lösen die Konzerte unter den Anwohnern von Cartagena eine Stimmung aus wie auf einem Volksfest – vor allem, wenn sie Open Air stattfinden und keinen Eintritt kosten. Familien mit Kindern strömen zum Plaza San Pedro, um Musik von Modest Mussorgsky und Johannes Brahms zu hören. Und weil der Andrang so groß ist, wurden in der Altstadt sogar Leinwände zum Public Viewing aufgebaut.