Kollektive Kriegserfahrung

05.05.2011
Sirenengeheul, leben in Kellern und Bunkern und das allgegenwärtige Sterben von Menschen. Der Einsatz von Flugzeugen hat den Krieg verändert. Doch was heißt das eigentlich für die Menschen und ihre Gesellschaft? Dieser Frage geht der Historiker Dietmar Süß in "Tod aus der Luft" nach.
Wenn die Heimat zur Front wird, wird die Moral der Heimatfront kriegsentscheidend. Solange Krieg zu Lande und zu Wasser geführt wird, bleibt das Alltagsleben relativ sicher. Seit dem Ersten Weltkrieg kommt der Tod auch aus dem Himmel, und er beschränkt sich nicht auf Schlachtfelder: Beide Seiten unternahmen "Testläufe" mit der neuen Waffe ins Hinterland.

War Krieg aus der Luft bis dahin Stoff für literarische Utopien, etwa bei H. G. Wells, wurde der Terror nun real. Unterboden für ein neues Bedrohungsgefühl. Es gab noch mehrere solcher Probeflüge - in Afrika, wo Briten und Italiener ihre Kolonialmacht sicherten, in Spanien, wo die deutsche Luftwaffe 1937 das erste Teppichbombardement testete und die Stadt Guernica zerstörte -, bis 1940/41 die deutschen "Blitz"-Angriffe auf englische Städte die Front systematisch mitten hinein in die Zivilbevölkerung verlegen. Mit den bekannten Folgen auch im eigenen Land.

Der Luftkrieg macht aus dem Zweiten Weltkrieg den totalen Krieg und damit Zivilisten zu Trägern der "Kriegsmoral". Was heißt das eigentlich für die Menschen und ihre Gesellschaft? Davon erzählt die ebenso umfangreiche wie detaillierte Studie über den "Tod aus der Luft" des Jenenser Historikers Dietmar Süß. Schon die Frage sprengt das Korsett traditioneller Militärgeschichte. Und mit seinem Ansatz, Antworten zu finden, schreibt Süß auf exzellente Weise eine andere, jüngere, vor allem angelsächsische Tradition fort. Diese neue Historikergeneration arbeitet interdisziplinär und multiperspektivisch, bezieht Kultur- und Sozialgeschichte, Mentalitäts- und Milieuforschung ein, verknüpft Makro- und Mikrostrukturen und ist global vernetzt.

Süß wagt aber noch einen weiteren Sprung über den Tellerrand: Er recherchiert Luftkrieg als kollektive und individuelle Erfahrung gleichzeitig in zwei diametral entgegen gesetzten Gesellschaftsformen, dem demokratischen England und Nazideutschland. Das Ergebnis ist kein Geschichtsrevisionismus, sondern tiefgreifende und weitreichende Humanwissenschaft.

Bomber sind Massenvernichtungsmittel, anonym, jederzeit überall wirksam. Das versetzt Menschen in ständige Angst, und diese Angst braucht Ordnungssysteme, damit die "Moral" nicht bröckelt. Schutzräume - Bunker, Keller, U-Bahnschächte - sind Horrororte. Wieder nach draußen zu kommen, ist womöglich noch grauenhafter, egal, ob man historisch-moralisch auf der "richtigen" oder "falschen Seite" steht. Massenhaft herumliegende Tote und Leichenteile, ein zertrümmertes Zuhause, Vermisste und Verschüttete, das Bergen und Sortieren abgerissener Gliedmaßen, all das ist traumatisch. Wie funktioniert die Krisenbewältigung, woher kommt Trost, welche (nationalen) Mythen entstehen und wie leben die hinterher weiter? Süß hat immensen Stoff "von unten" ausgegraben - in Lokalzeitungen zum Beispiel.

Er verwandelt ihn in hautnahe, packende Erzählung und verliert dabei nie die größeren Strukturen aus dem Blick. Um nur einen folgenschweren systemischen Unterschied zu nennen: Die britische Demokratie hat bei aller Mobilisierung nicht mit Terror nach innen reagiert. Hier hat die Gesellschaft die "Contenance" bewahrt, deshalb konnte dieser Krieg zum "people's war" werden. In Deutschland hingegen war der Terror nach innen seit 1933 Alltagsrealität, er hat das "Durchhalten" erzwungen. Nach dieser Lektüre versteht man auch heutige Kriege besser. Die entscheidende strategische Frage ist nicht: Wer hat die überlegene Militärtechnik? Sondern: Wer versteht die Zivilbevölkerung und die gesellschaftliche Verfassung auf der Gegenseite richtig?

Besprochen von Pieke Biermann.

Dietmar Süß: Tod aus der Luft - Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England
Siedler Verlag, München 2011
720 Seiten, 29,90 Euro.