Kollektive Intelligenz

Wie große Gruppen Entscheidungen treffen

Eine Honigwabe mit Arbeitsbienen
Bei Tieren, die in Gruppen oder Schwärmen leben, treffen oft relativ wenige Individuen die wichtigen Entscheidungen. © picture-alliance/ ZB
Von Frank Kaspar · 11.08.2016
Einsame Entscheidungen sind nicht unbedingt die besten. Durch kollektive Kognition können Gruppen mehr leisten als der Einzelne. Aber wie groß muss eine Gruppe sein, damit das funktioniert? Und kann sie dafür auch zu groß werden?
Auf manche Fragen gibt es nur eine richtige Antwort. Trotzdem kann es sinnvoll sein, auf der Suche danach viele Meinungen in einen Topf zu werfen. Wenn man eine Gruppe von Menschen schätzen lässt, wie viele Murmeln in einem Glas sind, dann liegt der Mittelwert aller Schätzungen erstaunlich nah an der wirklichen Anzahl.
Je mehr Leute sich beteiligen, desto besser wird das Ergebnis. Falls es nicht darauf ankommt, ob ein paar Murmeln unter den Tisch fallen, gelangt man auf diese Weise schneller ans Ziel, als wenn man Perle für Perle einzeln nachzählen würde.
Dass Gruppen bei der Lösung bestimmter Probleme klüger entscheiden als Einzelne, ist nicht neu. Der amerikanische Wirtschafts-Kolumnist James Surowiecki erzählt in seinem Buch "Die Weisheit der Vielen", wie ein britischer Naturforscher dieses Phänomen bereits 1906 erkannte.
Francis Galton, ein Cousin Charles Darwins, besuchte einen Viehmarkt. Dort wurde das Publikum dazu aufgerufen, das Gewicht eines Ochsen zu schätzen. Galton berechnete den Mittelwert sämtlicher Schätzungen und erwartete das Ergebnis mit Skepsis. Er traute dem Urteil der Menge nicht viel zu.
Zitat: Francis Galton (Surowiecki "Die Weisheit der Vielen", Seite 9)
"Der durchschnittliche Wettteilnehmer war [wahrscheinlich] in gleicher Weise imstande, das Schlachtgewicht des Ochsen zu schätzen, wie der durchschnittliche Wähler den Sachgehalt der meisten politischen Fragen zu beurteilen imstande ist, über die er abstimmt."
Zu seiner großen Überraschung fand Galton jedoch heraus, dass die Schätzung der Gruppe um weniger als 0,1 Prozent vom tatsächlichen Gewicht des Ochsen abwich.
Heute verbessert die sogenannte "Schwarmintelligenz" die Ergebnisse von Suchmaschinen, sie navigiert Verkehrsteilnehmer aus dem Stau und macht den Publikumsjoker einer bekannten Fernsehshow besonders treffsicher. Aber kann sie auch Entscheidungen in Politik und Wirtschaft verlässlicher machen?
Dieser Frage ist eine Forschergruppe unter der Leitung der Psychologin Mirta Galesic am Santa Fe Institute in den USA und am Max Planck Institut für Bildungsforschung in Berlin nachgegangen. Wenn große Gruppen besonders gute Entscheidungen treffen, so fragten die Autoren, weshalb haben Gremien, Jurys oder Vorstände dann meist nur fünf bis 15 Mitglieder und selten mehr als 30 bis 40?
Die Forscher berechneten in mathematischen Modellen, wie sich die Größe einer Gruppe auf die Qualität ihrer Entscheidungen auswirkt, wenn man zusätzlich berücksichtigt, ob die Gruppe überwiegend leichte oder schwierige Aufgaben zu bewältigen hat. Als "leicht" definieren Galesic und ihre Kollegen Aufgaben, bei denen die Gruppen-Mitglieder in Durchschnitt mit größerer Wahrscheinlichkeit zum richtigen Ergebnis kommen als ein bloßer Zufallsentscheid; als "schwierig" solche, bei denen die meisten Mitglieder wahrscheinlich falsch liegen.

Mittelgroße Gruppen schneiden am besten ab

Im wirklichen Leben müssen Experten meist Aufgaben lösen, die für sie leicht sind. Dabei wird ihre Treffsicherheit tatsächlich immer besser, je größer die Gruppe ist, wie im Schätzversuch mit den Murmeln. Aber hin und wieder kommen schwierige Probleme hinzu. Eine seltene Krankheit gibt einem Ärzte-Team Rätsel auf. Ein Konjunktur-Einbruch überrascht Ökonomen, weil sie wichtige Faktoren nicht erkannten. Wenn man dies in die Rechnung mit einbezieht, dann schneiden mittelgroße Gruppen auf lange Sicht am besten ab, schreiben die Autoren. Mehr Gruppenmitglieder führen dann sogar zu einer immer schlechteren Gesamtbilanz.
"Der Anstieg der Gruppengröße kann dazu führen, dass die Treffsicherheit der Gruppe bei der Lösung schwieriger Aufgaben stärker abnimmt als sie bei der Lösung leichter Aufgaben zunimmt."
Auch bei Tieren, die in Gruppen oder Schwärmen leben, treffen oft relativ wenige Individuen die wichtigen Entscheidungen. Wenn ein Bienenvolk ein neues Nest sucht, fliegt nur ein Teil des Schwarms los, um einen geeigneten Ort zu finden, erklärt der Verhaltensbiologe Jens Krause vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin.
"Es gibt Scout-Bienen, das sind im Allgemeinen ältere Arbeitsbienen und die suchen dann nach einem neuen Nest. Verschiedene Individuen stoßen auf verschiedene mögliche Nest-Lokationen, die kommen dann zurück, tanzen in Bezug auf dieses Nest, andere Bienen fliegen hin, probieren das auch aus. Und dann, wenn ein bestimmtes Quorum, ein bestimmter Schwellenwert von Bienen für eine bestimmte Location tanzt, gibt es eine Entscheidung für dieses Ziel."
Der Soziobiologe Thomas Seeley spricht in seinem Buch "Bienendemokratie" deshalb von einer "Findungskommission", an die der Schwarm die Standortsuche delegiert. Notgedrungen. Denn wer sollte noch Futter heranschaffen und die Brut versorgen, wenn alle Bienen zur Nestsuche ausschwärmen würden? Aber vielleicht ist diese Begrenzung auf wenige Kundschafter nicht nur ein Zugeständnis an den laufenden Betrieb, sondern ohnehin die beste Methode, um eine gute Entscheidung zu finden. Diese Ansicht vertraten die Biologen Albert Kao und Iain Couzin schon 2014 in einer Studie der Universität Princeton.
In einer komplexen Umwelt müssen Tiere aus einer Vielzahl von Reizen die richtigen Schlüsse ziehen. Wenn mehrere Nachbarn in einem Schwarm sich dabei an demselben Reiz orientieren, dann kommt es in einer großen Gruppe schnell zu einer Mehrheitsentscheidung, die sich nur auf eine einzelne Information stützt. Schwarmintelligenz setzt aber voraus, dass möglichst unterschiedliche Informationen in ein Urteil einfließen. Kao und Couzin zeigten, ebenfalls anhand mathematischer Modelle, dass dies in relativ kleinen Gruppen besser funktioniert.
"Und das ist das Aufregende an diesem Artikel. Wir sehen jetzt also zunehmend theoretische Studien, die zeigen, dass unter bestimmten Umweltbedingungen Gruppen mittlerer Größe besser sein können als sehr große Gruppen. Und jetzt müsste man halt noch stärker mit echten Daten aus verschiedenen Fallstudien gucken, wie belastbar diese Simulations-Ergebnisse letztendlich sind."
Denn beide Studien deuten an, dass ihre Erkenntnisse auch in der Praxis zu einer besseren Entscheidungsfindung beitragen könnten. Mirta Galesic und ihre Kollegen wagen sich dabei weit vor. Wie viele Experten sollte ein Journalist befragen, um den Ausgang einer Wahl vorherzusagen? Wie viele Ärzte sollte ein Patient konsultieren? Auf wie viele Ökonomen sollte eine Regierung hören? Die Autoren leiten dafür aus ihrem Modell konkrete Zahlen ab. Aber Beobachtungen, die sie bestätigen würden, stehen bisher noch aus. Kann die Schwarmforschung für gesellschaftliche Entscheidungen überhaupt Empfehlungen geben? Sollten wir Volksbefragungen wie das britische Referendum über den "Brexit", noch skeptischer betrachten, da den Urteilen von kleineren Gruppen anscheinend mehr zu trauen ist? Jens Krause gibt zu bedenken, dass naturwissenschaftliche Methoden bei solchen Fragen schnell an ihre Grenzen stoßen.
"Es geht nicht nur, in der Demokratie, um die beste Entscheidung, sondern auch darum, dass sich die Leute da berücksichtigt fühlen in ihrer Meinung. Und das ist natürlich ein bisschen komplexer als Sachlage als das, was wir normalerweise bearbeiten. In solchen Artikeln wie hier und meinen eigenen geht es immer einfach nur darum: Wie kann die beste Entscheidung gefällt werden? Und nicht um die Frage: Wie bereit ist nachher die Bevölkerung, diese Entscheidung zu akzeptieren?"
Auf politische Fragen gibt es in der Regel mehr als eine richtige Antwort. Meist wird auch heftig diskutiert, bevor eine Entscheidung fällt, – anders als in den erwähnten Studien, die von einem einfachen Mehrheits-Votum ausgehen. Schon deshalb sind ihre Ergebnisse nur mit großer Vorsicht auf reale Situationen übertragbar.

Man sollte mehr als eine Handvoll Meinungen im Topf haben

Thomas Seeley hat die Regeln der "Bienendemokratie" allerdings mit Erfolg an der Universität getestet. Wann immer er Gremien selbst besetzen konnte, holte er Leute mit möglichst unterschiedlichen Vorkenntnissen und Ansichten ins Team und achtete darauf, dass sie unabhängig urteilen. Gerade wenn es keine einfachen Lösungen gibt, sollte man mehr als eine Handvoll Meinungen im Topf haben.
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