Kölner Silvesternacht

Richter unter erheblichem Druck

Ein wegen Diebstahls in der Kölner Silvesternacht Angeklagter hält sich im Amtsgericht Köln einen Ordner vor das Gesicht.
Ein wegen Diebstahls in der Kölner Silvesternacht Angeklagter hält sich im Amtsgericht Köln einen Ordner vor das Gesicht. © pa/dpa/Berg
Volker Boehme-Neßler im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 24.02.2016
In Köln stehen heute die ersten Tatverdächtigen der Kölner Silvesternacht wegen Taschendiebstahl vor Gericht. Der Prozess steht unter starker Beobachtung der Medien. Deshalb werde Generalprävention hier eine große Rolle spielen, sagt der Jurist Volker Boehme-Neßler.
Knapp zwei Monate nach den Übergriffen in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof stehen heute die ersten drei Tatverdächtigen vor Gericht. Der Vorwurf: Diebstahl eines Handys und einer Tasche. Es sind Prozesse, wie sie jeden Tag vielfach vor deutschen Amtsgerichten stattfinden. Doch dieses Mal stehen die Verhandlungen unter Beobachtung von Medien und Öffentlichkeit. Ist ein gerechtes Urteil vor diesem Hintergrund überhaupt möglich? Hatten die Täter schlicht Pech, als sie sich die Silvesternacht als Tatzeitpunkt aussuchten? Würde das Urteil anders aussehen, wenn sie das Handy eine Woche vorher in einer Kölner Fußgängerzone geklaut hätten?
Der Oldenburger Jura-Professor Volker Boehme-Neßler erläuterte dazu im Deutschlandradio Kultur, dass sich Strafen aus vielen Faktoren zusammensetzen – und ein Faktor sei die Generalprävention. Strafen sollen demnach auch eine Außenwirkung haben, abschreckend wirken. Und die Generalprävention spiele natürlich nun bei diesen Prozessen eine größere Rolle, als wenn die Taten zwei oder drei Wochen vor den Kölner Übergriffen begangen worden wären, sagte er. Von den Erwartungen der Öffentlichkeit würden sich die Amtsrichter nicht ganz lösen können, sagte Boehme-Neßler. Er würde heute nicht gern mit ihnen tauschen wollen.

Das Gespräch im Wortlaut:

Korbinian Frenzel: Heute beginnen Prozesse gegen drei mutmaßliche Täter der Kölner Silvesternacht. Angeklagt sind sie wegen Diebstahls, und nach all der Aufregung zu Beginn des Jahres, all den Debatten ist eines klar: Diese Prozesse, die jetzt beginnen, stehen unter massiver öffentlicher Beobachtung.
Man könnte auch sagen, sie beginnen mit einer massiven öffentlichen Erwartungshaltung. Bei mir ist der Rechtsprofessor Volker Boehme-Neßler. Sie haben vor ein paar Jahren ein Buch herausgegeben unter dem Titel "Die Öffentlichkeit als Richter". Herr Boehme-Neßler, wer wird denn bei diesen beiden Kölner Verfahren am Ende richten? Die Richter oder die Öffentlichkeit?
Volker Boehme-Neßler: Das ist eine ganz schwierige Frage. Im besten Fall, so wie es die Verfassung vorsieht, sind es die Richter. Die Richter werden sich aber nicht ganz lösen können von den Erwartungen der Öffentlichkeit.
Justiz im Rechtsstaat soll unabhängig sein, das sagt sogar die Verfassung. Das ist ein ganz hohes Gut. Aber Justiz findet natürlich nicht statt im luftleeren Raum, sondern in einer bestimmten Gesellschaft, in einer bestimmten historischen Situation. Und so ist es hier eben auch.
Es sind nicht ganz normale, es sind nicht einfach Handy-Diebstähle, wie sie hundertfach vorkommen jeden Tag. Es sind Handy-Diebstähle nach den Geschehnissen in Köln. Und dann ist da natürlich eine andere Erwartungshaltung, und jeder von uns spürt Erwartungshaltungen, und die Kunst der Richter besteht natürlich darin, mit dieser Erwartungshaltung einigermaßen vernünftig umzugehen und trotzdem ein gerechtes Urteil zu sprechen.
Frenzel: Aber wenn ich das mal in der Konsequenz bedenke, was Sie sagen, wenn diese drei jungen Männer, ein Marokkaner, zwei Tunesier, wenn die nun die Handys zwei, drei Wochen vorher in der Kölner Fußgängerzone geklaut hätten, dann würde die Strafe wahrscheinlich geringer ausfallen?

Strafen setzen sich aus vielen Faktoren zusammen

Boehme-Neßler: Das ist eine ganz schwierige Frage. Das ist jetzt so ähnlich wie eine Ferndiagnose beim Arzt. Das ist ganz schwierig.
Eigentlich, also grundsätzlich müsste die Strafe genauso ausfallen. Es gibt allerdings im Strafrecht einen Faktor – oder andersherum: Strafen im Strafrecht setzen sich aus ganz vielen Faktoren zusammen, das ist ein ganz wichtiger, schwieriger, problematischer Abwägungsprozess, den die Richter dann vornehmen.
Ein Faktor ist unter anderem das, was die Strafrechtler dann die Generalprävention nennen, also Strafen sollen ruhig auch eine Außenwirkung haben. Und diese Generalprävention spielt natürlich jetzt bei diesen Prozessen eine größere Rolle, als sie sie vor zwei, drei Wochen, vor den Kölner Ereignissen gespielt hätte.
Frenzel: Aber Generalprävention klingt so ein bisschen nach Abschreckungsurteil.
Boehme-Neßler: Ja, ist es auch. Das ist so die Idee. Strafrecht und Strafen haben verschiedene Faktoren oder verschiedene Funktionen. Eine Funktion ist tatsächlich auch Signal an die Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit bekommt signalisiert, das wollen wir nicht, diese Straftaten wollen wir hier nicht.
Der Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Neßler (links) im Gespräch mit Korbinian Frenzel in der Sendung "Studio 9" im Deutschlandradio Kultur
Der Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Neßler (links) im Gespräch mit Korbinian Frenzel in der Sendung "Studio 9" im Deutschlandradio Kultur: Versäumnisse in der Richterausbildung© Deutschlandradio / Matthias Horn
Frenzel: Die öffentliche Erwartung, die öffentliche Haltung ist ja nun auch kein unabhängiger Richter, die kann, wir haben prominente Fälle, auch mal in eine komplett falsche Richtung gehen, siehe Fall Kachelmann. Jetzt gibt es Befragungen, ich glaube, sie sind auch in Ihrem Buch zitiert, ein Viertel der befragten Richter gibt zu, dass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in Strafprozessen Auswirkungen auf die Höhe der Strafe hat. Ist das ein haltbarer Zustand?

Die öffentliche Meinung hat einen großen Einfluss auf die Gerichte

Boehme-Neßler: Das ist ein Zustand, mit dem man umgehen können muss. Ich glaube, in Wirklichkeit hat die Öffentlichkeit noch einen viel größeren Einfluss. Diese Umfragen, die Sie zitieren, haben nicht objektiv gemessen, sondern die haben nur das gemessen, was die Richter selbst gesagt haben. Und viele Richter sagen, wir sind nicht beeinflussbar.
Die Kunst besteht, glaube ich, darin, wir müssen uns klar machen, von Medien werden alle beeinflusst, auch die Richter. Das ist an sich nichts Schlimmes, es ist auch unvermeidbar in einer Mediengesellschaft. Es kommt aber darauf an, sich das bewusst zu machen und mit diesem Einfluss umzugehen. Man kann ja beeinflusst werden, sich diesen Einfluss klar machen und dann trotzdem objektiv nach Recht und Gesetz entscheiden.
Frenzel: Kann man das?
Boehme-Neßler: Man soll es können. Oder das ist das, was der Rechtsstaat von den Richtern will. Richter ist ein sehr schwieriger Job, unter anderem auch deswegen. Man kann es mehr oder weniger, um es mal so zu sagen. Die Richter sind ja auch keine Rechtsprechungsautomaten, sondern eben Menschen, die versuchen, bestimmte Anforderungen, die vom Gesetz gestellt werden, die von der Öffentlichkeit kommen, zum Ausgleich zu bringen.
Frenzel: Wir reden ja jetzt hier auch von Prozessen vorm Kölner Amtsgericht. Das sind Gerichte, wo Richter im seltensten Fall in prominenten Rollen sind, sie sind keine Verfassungsrichter, die die Öffentlichkeit kennt. Ist das nicht eine besondere Problematik bei dieser Situation, dass da auf einmal Scheinwerferlicht auf Leute gerichtet ist, die das gar nicht kennen?

Die Richter brauchen mehr Medienkompetenz

Boehme-Neßler: Ja, das halte ich auch für ein sehr großes Problem. Deswegen denke ich auch, man müsste in der Richterausbildung oder vielleicht in der Juristenausbildung ganz allgemein die Medienkompetenz erhöhen.
Es ist ganz klar, Richter in der Mediengesellschaft sind was anderes als Richter vor hundert Jahren. Richter müssen mit Medien umgehen können. Sie dürfen sozusagen nicht schockiert sein, wenn plötzlich ein Journalist vor der Tür steht, sie dürfen auch nicht schockiert sein, wenn Scheinwerfer angehen.
Das muss man aber lernen, glaube ich. Und deswegen ist das tatsächlich auch noch ein Versäumnis der Juristenausbildung, dass das in der Juristenausbildung gar nicht vorkommt.
Frenzel: Wenn wir mal das Scheinwerferlicht auf die Medien richten, auf uns zurück, was sind denn da die Leitfäden, die Sie mitgeben würden angesichts des öffentlichen Interesses, das es gibt, aber eben auch angesichts der Gefahren, die wir besprochen haben?
Boehme-Neßler: Ich glaube, auch die Aufgabe der Medien ist schwierig und differenziert. Auf der einen Seite haben die Medien völlig recht. Es gibt ein öffentliches Interesse, sie sollen berichten, es gibt die Pressefreiheit. Es gibt auch den Informationsauftrag der Presse und der Medien, die müssen also berichten.
Auf der anderen Seite müssen sie sich vielleicht auch ein bisschen zurückhalten oder sie müssen sich auch ein bisschen reindenken in das, worüber sie berichten.
Das heißt, sie müssten vielleicht ein gewisses Verständnis für die Gerichte haben. Es müsste auch so sein, dass eben klar wird, dass sie die Prozesse nicht kaputt machen dürfen. Sie sollen die Prozesse beobachten, darüber berichten, auch kritisch berichten. Sie sollen aber nicht in die Prozesse eingreifen und die Rechtsfindung dann behindern. Das ist auch wieder eine Gratwanderung für Journalisten.
Frenzel: Ja. Wenn Sie das mal zurückblicken auf große Prozesse, die wir hatten, würden Sie sagen, die gelingt im Grunde in unserem Lande?

Der Fall Kachelmann war kein Ruhmesblatt - für niemandem

Boehme-Neßler: Ich glaube, dass das in den meisten Fällen gelingt. Aber gerade in diesen ganz großen, ganz spektakulären Fällen, da habe ich doch meine Zweifel, ob das wirklich gelingt.
Im Fall Kachelmann bin ich mir nicht sicher, ob das gelungen ist. Das war kein Ruhmesblatt für niemanden. Das war weder für das Gericht ein Ruhmesblatt, der Prozess wurde nicht souverän geführt. Es war aber auch für die Medien, die sich wie wild geworden in die Wahrheitsfindung eingemischt haben, kein Ruhmesblatt. Beide Seiten müssen dran arbeiten, denke ich.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Jörg Kachelmann bei seinem Prozess im Landgericht Mannheim: Nicht souveränes Gericht, wild gewordene Medien (Bild: picture alliance / dpa)© picture alliance / dpa
Frenzel: Was wäre denn, wenn wir diesen Fall nehmen ... Sie haben gesagt "Ferndiagnose des Arztes", die wollen wir hier natürlich eigentlich nicht wagen. Aber diese Fälle, die da jetzt vorliegen, also ein Handy wurde geklaut, eine Kamera wurde möglicherweise geklaut – was wären denn dafür in der Regel so angemessene Strafen?
Boehme-Neßler: Ist schwierig, und insofern bin ich jetzt ganz auf dem Glatteis. Aber wir haben ja noch Winter, ich gehe jetzt mal aufs Glatteis. Normalerweise gibt es da eine Bewährungsstrafe.
Das ist eigentlich bei einem normalen Handydiebstahl, wenn man sich die Statistiken anguckt, eine leichtere Bewährungsstrafe sozusagen das Normale. Ich kann mir vorstellen, dass sich die Richter – oder es wird in diesem Prozess darum gehen, dass die Richter entscheiden: Können wir es uns leisten angesichts der Erwartungen der Öffentlichkeit, noch Bewährung zu geben, oder müssen wir eine kleine Strafe ohne Bewährung geben?
Frenzel: Stellen Sie sich mal vor, das wird das Urteil sein, die werden ja möglicherweise heute noch gesprochen, die Urteile, und die Richter sagen: Bewährungsstrafe. Das ist doch eigentlich nicht denkbar.
Boehme-Neßler: Das ist ganz schwierig. Das würde die Öffentlichkeit nicht verstehen.
Frenzel: Wäre aber möglicherweise das angemessene, das gerechte, das faire Urteil für diese drei jungen Männer.

Es wird um die Frage gehen: Bewährung ja oder nein?

Boehme-Neßler: Richtig. Wobei das Gericht eben auch diese Generalprävention, die Abschreckungswirkung des Strafrechts im Hinterkopf haben kann. Ganz schwierig. Da möchte ich heute nicht mit den Richtern tauschen. Aber es wird genau um diese Frage gehen: Bewährung ja oder nein?
Frenzel: Bewährung, ja oder nein? Volker Boehme-Neßler, Professor für Öffentliches Recht und Rechtstheorie an der Universität Oldenburg heute Morgen hier bei uns in Berlin und bei uns zu Gast in "Studio 9". Ich danke sehr für Ihren Besuch!
Boehme-Neßler: Dankeschön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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